17. April 2022,
Redebeginn: 12 Uhr - Es gilt das gesprochene Wort -
Liebe
Ostermarschierer*innen, liebe Osterradfahrer*innen,
der Ostermarsch
macht in Gelsenkirchen Station im Stadtgarten. Hier kommt gerade der Winter an
sein Ende, und überall fängt es an zu blühen. Die Bäume werden grün, die
Blumenbeete bunt. Und dennoch: Der Ostermarsch findet nicht auf der grünen
Wiese statt. Denn mitten im Garten stehen wir jetzt am Mahnmal für die Opfer
des Nationalsozialismus. Hier haben wir die Namen der Konzentrationslager vor
Augen. Hier im Garten wird der Ostarbeiter gedacht, die gegen Ende des Zweiten
Weltkrieges hier im Grünen exekutiert und verscharrt wurden. Im Stadtgarten
wird auch an die deutschen Kriegsgefangenen erinnert.
Wer hier im Grünen
spazieren geht, begegnet dem Krieg und seinen Opfern. Begegnet den Menschen,
die zu Opfern wurden lange bevor die Panzer rollten. Schon 1933 und in den
Jahren davor, als eine Mehrheit nicht mehr bereit war, für Demokratie und
Menschenrechte aufzustehen und etwas zu wagen. Zu protestieren, als die
Gesellschaft eingeteilt wurde in Herrenmenschen und Untermenschen. Zu
protestieren, als die Gewerkschaften und die Parteien verboten wurden.
Wer hier im Grünen
spazierengeht, begegnet auch dem Krieg, der geführt werden musste, um dem
Faschismus ein Ende zu machen, den Opfern ihre Würde zurückzugeben und der
Demokratie eine zweite Chance zu geben.
Der Ostermarsch in
Gelsenkirchen findet nicht auf der grünen Wiese statt. Denn hier liegen das
Grauen und das Grün dicht beieinander.
So dicht wie der
23. und der 24. Februar beieinander liegen.
Am 23. war noch ein
Ostermarsch geplant wie die vielen Demonstrationen zuvor.
Und am Tag darauf
überfiel Putins Armee die Ukraine und begann einen Krieg, wie ich ihn in Europa
nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Am 23. Februar
hatte der Krieg nur in anderen Kontinenten seinen Ort.
Und am Tag danach
kam er uns so nah, dass bald darauf Busse aus Gelsenkirchen Richtung
polnisch-ukrainische Grenze starteten, um die Flüchtenden von dort in unsere
Stadt zu holen.
Wer jetzt in der
Stadt und ihren Parks spazieren geht, begegnet mitten im Grünen den Menschen,
die dem Grauen entkommen sind.
Davon erzählt auch
die biblische Ostergeschichte. Frauen machen sich auf den Weg zu einem Grab.
Das liegt in einem Garten. Begraben ist dort Jesus. Drei Tage zuvor
hingerichtet, Opfer von Verrat, von religiösen und politischen Machtspielen.
Die Frauen trauern um den Toten. Aber sie können ihn nicht finden. Stattdessen
begegnen sie zwei Männern. Und die fragen die Frauen: „Was sucht ihr den
Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ (Lukas 24,5)
Das ist die
Osterbotschaft. Jesus lebt. Das Leben ist stärker als der Tod.
Diese Botschaft
trägt mich. Weil es in ihr um Versöhnung geht. Um Versöhnung zwischen Gott und
Mensch, um Versöhnung zwischen Menschen. Eine Versöhnung, die die Welt umspannt
und mehr ist als ein schönes Gefühl. Das prägt mein Denken und Handeln.
Auch wenn Sie von
ganz woanders herkommen: Wir könnten hier im Grünen angesichts des Grauens des
Krieges zu den gleichen Überzeugungen kommen.
„Was sucht ihr den
Lebenden bei den Toten?“
Jeder Krieg dient
dem Tod und nicht dem Leben. Es gibt keinen Grund, der einen Angriffskrieg
rechtfertigt. Putin und seine Armee dienen dem Tod und sind seine Knechte. Und
alle seine Versuche, diesen Krieg so zu deuten, dass er letztlich dem Leben
dient, sind und bleiben Lügen. Krieg heißt Tod. Immer.
Ich stehe
fassungslos Menschen gegenüber, die versuchen, Putins Angriffskrieg irgendwie
doch noch zu rechtfertigen. Etwa unter Hinweis auf Fehler des Westens, der USA,
der NATO, einzelner Politiker*innen.
Ich bin davon
überzeugt: „Für Krieg gibt es keine Rechtfertigung.“ So steht es auch im Aufruf
zum Ostermarsch. Wer den Krieg sucht, wird nie das Leben finden. Wer das Leben
will, darf nicht den Krieg suchen. Leben und Tod lassen sich nicht versöhnen.
Das gilt in
gleicher Weise für den Einsatz mit Atomwaffen, wie er jetzt von Putin in
Erwägung gezogen wird. Atomwaffen zerstören immer das, was sie angeblich
schützen wollen. Egal, ob sie strategisch oder taktisch eingesetzt werden. Ob
nun weltweit oder räumlich begrenzt. Wer Atomwaffen einsetzt, vernichtet alles
Leben. Zurück bleibt einzig der Tod. Zurück bleibt nichts von dem, was vorher
als schützenswert herausgestellt wurde.
Darum haben
Atomwaffen keine Zukunft. Sie sind vielmehr das Ende der Zukunft. Ihr Einsatz
vernichtet alles, was angeblich durch sie geschützt werden soll. Nach dem
Grauen eines Atomkrieges wird es kein Grün mehr geben. Im Wissen darum muss die
Bundeswehr auf nukleare Teilhabe verzichten. Wenn sie denn dafür da ist, unser
Leben zu schützen.
„Was sucht ihr den
Lebenden bei den Toten?“
Diese Frage stellt dann auch all die ins Abseits, die das Grauen nutzen, um das
Leben unserer Gesellschaft zu zerstören.
Die angesichts des weltweiten Unheils das Heil nur für einige Auserwählte
suchen.
Die die Flüchtlinge aus der Ukraine gegen die aus anderen Kriegsgebieten
ausspielen.
Die behaupten, den einen müsse man helfen, während die anderen zu unserem
Nutzen abgeschoben werden müssten.
Die zwischen schützenswertem Leben und solchem, das man dem Tod preisgeben
darf, unterscheiden.
Die inmitten einer vernetzten Welt die falsche Alternative für Deutschland
aufstellen, als könnten wir unter uns bleiben und dadurch gerettet werden.
Wer so argumentiert, spaltet unsere Gesellschaft, statt auf Versöhnung zu
setzen.
Der setzt auf den Tod unserer Demokratie und behauptet, dass wir anschließend
in einem schönen deutschen Garten zur Ruhe kommen können.
Der ist wie ein Totengräber, der durch die Landschaft läuft und ruft „Ich will
das Leben.“
„Was sucht ihr den
Lebenden bei den Toten?“
Wenn wir unser Heil nicht im Krieg, sondern in der Förderung des Lebens sehen,
dann geht es jetzt darum, diesen Krieg zu beenden, statt ihn zu befeuern. Nicht
immer mehr Waffen werden den Frieden bringen. Der Krieg lässt sich nicht durch
noch mehr Krieg beenden. Sondern das Leben liegt darin, jetzt politische
Lösungen zu suchen. Wer den Frieden will, muss jetzt in ihn investieren.
Diplomatie ist das Gebot der Stunde. Initiativen, die die Chance zur Versöhnung
aufzeigen. Bewegungen hin zum Frieden, der nicht die Einen auf ewig zu
Verlieren und die Anderen zu Gewinnern macht. Ein Frieden, der auch dadurch
gerecht ist, dass er das Recht und die Menschenwürde stark macht. Der Menschen
und Staaten Sicherheit schenkt. Der nicht ganze Vöker und Staaten verteufelt,
auf Begegnung setzt, auf Bildung und Erziehung zum Frieden
Das gilt nicht nur
Staaten, die gerade Krieg führen oder als Waffenlieferanten zu Hilfe kommen.
Denn dieser Krieg hat ja bereits jetzt weltweite Folgen. Die Weizenpreise
steigen, und in Afrika wird das Brot unerschwinglich teuer. Die Gaspreise
explodieren, und bei uns bekommen Menschen Angst vor der Kälte. Ich werde das
wohl finanziell verkraften. Aber es gibt genügend Menschen in unserer Stadt und
weltweit, deren Leben dadurch bedroht ist.
Deren Not darf uns nicht kalt lassen.
Gott sei Dank gibt
es die Friedensbewegung. Eine Bewegung, zu der auch viele gehören, die nicht
zum Ostermarsch kommen. Menschen, die an der Not der Geflüchteten nicht
vorbeischauen. Menschen, die ihre Häuser öffnen und ihre Portemonnaies. Die
gastfreundlich und freigiebig und freundlich sind. Und Gruppen, Vereine,
Kirchen, die Stadt Gelsenkirchen, Land und Bund, die tun, was möglich ist.
Was für eine Bewegung! Ich bin stolz darauf, dass unsere Gesellschaft und
unsere Demokratie hier ihre Stärke unter Beweis stellen.
„Was sucht ihr den
Lebenden bei den Toten?“
So viel ist klar:
Ich will das Leben suchen. Und dafür ist der Tod der falsche Ort.
Der Krieg hat keine Zukunft. Er zerstört, was er zu schützen vorgibt. Darum
muss alle Energie auf das Leben ausgerichtet werden. Jetzt geht es um eine
Politik, die der Zukunft eine Chance gibt.
Das ist der richtige Weg. Davon bin ich überzeugt.
Und zugleich spüre
ich, dass mich diese Sätze nicht in Ruhe lassen. Sie zwicken mich. Sie bringen
mich in eine Zwickmühle. Ich stecke in einem Dilemma. Da gibt es nämlich zu
einigen meiner Sätzen auch einen Gegen-satz. Einen Satz, der auch richtig ist.
Den ich nicht einfach argumentativ vom Tisch wischen kann. Den ich nicht
einfach hinter dem anderen Satz zurückstellen kann. Weil nämlich beide Sätze
ihr Recht haben.
Ein Beispiel:
Der eine Satz heißt dann: Für Krieg gibt es keine Rechtfertigung.
Dem gegenüber steht: Die Menschen in der Ukraine haben das Recht, sich zu
verteidigen. Oder: Demokratie muss verteidigt werden.
Zwischen diesen
Sätzen stecke ich. Sie beschreiben mein Dilemma. Aus dem komme ich nicht raus.
Ich kann keinen dieser Sätze hinter den anderen zurückstufen. Ich kann nicht
sagen, dass Krieg doch eine Lösung ist. Und ebenso wenig, dass die Menschen in
der Ukraine stillhalten sollen.
Wie umgehen mit
diesem Dilemma?
Einfach nichts tun und das Zwicken ignorieren, ist keine Lösung.
Ich glaube, dass Dilemmata entschieden werden müssen und können. Aber dabei
gibt es kein Richtig und kein Falsch. Es gibt nur eins: Verantwortung
übernehmen und aus dieser Verantwortung heraus handeln. Bereit sein, das eine
oder das andere zu tun und dabei das Risiko eingehen, falsch zu liegen.
Verantwortung zu übernehmen, weil ich davon überzeugt bin, damit dem Leben zu
dienen. Ich bin nicht verhaftet in der Angst, das falsche zu tun. Ich bin frei,
auch im Dilemma zu handeln. Ich übernehme Verantwortung. Ostern setzt mich in
Marsch.
Für mich heißt das:
Ich bin kein prinzipieller Pazifist mehr. Und es heißt zugleich: Die Person
neben mir kann sich anders entscheiden als ich. Und kann damit richtig liegen.
Was uns verbindet: Wir übernehmen beide Verantwortung für ein Ziel, dass nicht
Krieg heißt.
Noch einmal zurück
zur Ostergeschichte. Deren Botschaft: Wir sollen dem Leben dienen und nicht dem
Tod. Darum sollen wir für Versöhnung eintreten, nicht für ewige Feindschaft.
Diese Versöhnung öffnet die Zukunft. Und dafür wagt sie etwas. Sie lässt sich
nicht davon abschrecken, dass sie auch scheitern könnte. Und sie gibt dem
Gegenüber, das aussieht wie ein Feind, eine zweite Chance. Denn sie setzt einen
Menschen nicht in eins mit dem, was er tut. Sie ist überzeugt, dass Unrecht
Unrecht bleibt. Aber auch davon, dass jeder Mensch resozialisierbar ist.
Ostermarsch im
Stadtgarten am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus
Das Grauen inmitten
des Grünen.
Wie gut, dass es
auch das andere gibt: Grün mitten im Grau. Hoffnungspflanzen angesichts des
Krieges. Und dieses Grün wächst.
Dafür stehen Sie.
Dafür stehen wir.
Und mit uns die
vielen anderen, die den Opfern zur Seite stehen.
Ich danke Ihnen.
Heiner
Montanus ist Superintendent des Ev. Kirchenkreises Gelsenkirchen und
Wattenscheid