Rede von Lothar Wickermann, gehalten am 27.3.2005 auf dem Ostermarsch in Gelsenkirchen am Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Liebe Friedensfreunde und Friedensfreundinnen,
vor 60 Jahren ging in Mitteleuropa der Krieg zu Ende - ein Krieg, der bewusst vom faschistischen Deutschland entfesselt wurde und von Anfang an ein verbrecherischer Krieg war.
Schon der Überfall auf Polen 1939 war ein Verbrechen. Begründet wurde er mit einer Lüge, dem selbst inszenierten Angriff auf den Sender Gleiwitz. Die deutsche Kriegsführung in Polen selbst war ebenso verbrecherisch. Die Bevölkerung wurde terrorisiert, die gesamte Bildungselite des Landes sollte liquidiert werden.
Was 1939 in Polen begonnen hatte, setzte sich fort in den Überfällen auf die anderen europäischen Staaten. Die Verbrechen wurden fortgesetzt und ins unermessliche gesteigert. Geiselerschießungen, "Kommissarbefehl", Erniedrigung zur Zwangsarbeit, Bombenkrieg gegen Städte wie Coventry oder Rotterdam, die "Politik der verbrannte Erde"– dies alles ist als verbrecherisch anzusehen.
Im Schutz dieses Krieges fand der größte Völkermord der Geschichte statt – die Vernichtung der Juden Europas.
1945 kehrte der Krieg nach Deutschland zurück und brachte auch hier Zerstörung und den Tod von 500.000 Zivilisten. Frauen wurden zu Witwen, Kinder zu Waisen, viele zu Versehrten. Die Städte – besonders die Großstädte – waren zerstört. Wohnung, Nahrung Heizmittel fehlten - und doch fühlten sich viele befreit, als dieser Krieg endlich zu Ende war. Nicht nur diejenigen, die immer im Widerstand gekämpft hatten, gar selbst ihre Befreiung aus dem Konzentrationslager erlebt hatten, waren der Meinung: Nie wieder! Nie wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen! Nie wieder darf der Faschismus in Deutschland eine Chance bekommen!
Auf Initiative von Antifaschisten errichtete die Stadt Gelsenkirchen in den Fünfziger Jahren dieses Denkmal. Die Namen der Konzentrationslager Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen, Treblinka, Auschwitz, Buchenwald, Dachau und Flossenbürg erinnern uns an das grausigste Kapitel der deutschen Geschichte. Ich möchte euch bitten, jetzt der Opfer des Faschismus zu gedenken.
In der Mitte dieses Denkmals steht ein Gedicht:
Zerstampft des Unrechts Drachensaat,
Zerstört den Hass von Staat zu Staat.
Versenkt die Waffen in Gewässern.
Dann wird im Friedenssonnenschein
Die ganze Welt uns Heimat sein.
Dieses war nach dem Krieg der gemeinsame Nenner aller Menschen. Die Bildung von Parteien und Gewerkschaften waren durch die Erfahrungen des Faschismus und des Krieges geprägt. Auch das Grundgesetz mit seinen Grundrechten wäre ohne diesen gemeinsamen Nenner nicht so zustande gekommen.
Mit der Zeit aber sollte dieser gemeinsame Nenner immer mehr verloren gehen. Schon früh wurden die alten Nazieliten wieder in führende Positionen gehoben, Universitäten, Justiz und Verwaltungen konnten ihre alte Kontinuitäten wieder herstellen. Verurteilte Kriegsverbrecher wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Ehemalige NSDAP-Mitglieder konnten Ministerämter bekommen und sogar Bundeskanzler oder Bundespräsident werden.
Besonders aber mit der Entscheidung zur Wiederaufrüstung der Bundesrepublik wurde eine Abkehr von den Lehren von 1945 vollzogen. Natürlich griff man auf Offiziere der faschistischen Wehrmacht zurück, als die Bundeswehr aufgebaut wurde, in der Traditionspflege war die Wehrmacht selbstverständlicher Vorgänger der Bundeswehr, Wehrmachtsgeneräle waren Namensgeber für Kasernen. Das strategische Ziel war die Kriegsfähigkeit der Bundesrepublik einschließlich der Möglichkeit von Angriffskriegen und der Verfügung über Atomwaffen.
Dass ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung jetzt den Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umsetzt, macht mich betroffen. Die Erfahrungen von 1945 werden dadurch nämlich vergessen. Nicht dass es in den vergangenen Jahren auch noch andere geschichtliche und politische Erfahrungen gibt – den Kalten Krieg, das Ende der Systemkonfrontation, die Globalisierung – die Entscheidungen für weltweite Auslandseinsätze der Bundeswehr sind Ausdruck einer neuen Geschichtslosigkeit.
Was mich aber noch viel betroffener macht, ist die bewusste Umdeutung der Vergangenheit, das, was man Revision der Geschichte nennt. Die Nazi-Aufmärsche gegen die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, der Aufmarsch am Jahrestag der Bombardierung Dresdens, die geplanten Aufmärsche am Jahrestag der Befreiung am 8. Mai entsetzen mich.
Verbrechen werden nicht mehr Verbrechen genannt, sondern Heldentaten. Verbrechen wie der Mord an fast 6 Millionen Juden werden geleugnet, Auschwitz wird geleugnet. Aus Nazi-Tätern werden Opfer.
Längst ist diese Geschichtsklitterung nicht nur bei Naziaufmärschen zu hören, sie hat auch wieder die Parlamente erreicht. Der Eklat im sächsischen Landtag ist nur die Spitze eines Eisbergs. Nazis sitzen auch in Kommunalparlamenten in NRW. Die NPD kandidiert wie selbstverständlich bei den kommenden Landtagswahlen. Das Grundgesetz, das ein Verbot aller Naziorganisationen vorsieht, wird so mit Füßen getreten.
Schon einmal – Ende der Sechziger Jahre – standen die Ostermärsche einem Anwachsen des Neofaschismus gegenüber. Es gelang damals tatsächlich, den gemeinsamen gesellschaftlichen Konsens von 1945 durchzusetzen: Der Einzug der NPD in den Bundestag konnte 1969 verhindert werden. Dieses sollte uns auch wieder gelingen!
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!