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"... empfehlen wir, der Regierungsvorlage zur Fortsetzung des Kriegseinsatzes die Zustimmung zu verweigern"
Offener Brief aus der Friedensbewegung an den Bundestag
Sehr geehrte Damen und Herren,
am 15. November wird der Bundestag vermutlich mit einer fast
100-prozentigen Mehrheit der Verlängerung des Kriegsmandats "Enduring
Freedom" zustimmen.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag wendet sich - auch stellvertretend für viele andere Friedensgruppen und -organisationen - an Sie und bittet Sie Folgendes zu bedenken:
1 Zurückgehaltene Bilanz
Die Verlängerung des Mandats für den Bundeswehreinsatz entbehrt
jeglicher argumentativer Grundlage. Die Bundesregierung hat es versäumt,
eine nachprüfbare Bilanz des bisherigen Einsatzes zu ziehen und
Rechenschaft über die deutsche Teilnahme an "Enduring Freedom"
abzulegen. Erst auf einer solchen Grundlage ließen sich für die
Abgeordneten Entscheidungskriterien für eine Abstimmung finden. Im
Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
wird lediglich behauptet, die "Operation Enduring Freedom" habe
"sichtbare Erfolge" gezeigt; dazu zählen die "Zerschlagung des
Talibanregimes" und die "weitgehende" Zerstörung von Al Qaida.
Mit keiner Silbe wird demgegenüber erwähnt, dass der Krieg in
Afghanistan nach vorsichtigen Schätzungen über 20.000 Todesopfer
gefordert hat, worunter bis zu 10.000 Zivilpersonen sind. Der Rat der
EKD sprach auf seiner Synode vor wenigen Tagen von "Tausenden
unschuldiger Opfer unter der Zivilbevölkerung", während das eigentliche
Ziel des Krieges, den Drahtzieher des 11. September, Osama bin Laden, zu
fangen, nicht erreicht wurde. "Es liegt in der Natur von
Terror-Netzwerken, dass sie durch militärische Aktionen nicht besiegt
werden können", heißt es in dem Bericht des Rats der EKD weiter. Die
Fortsetzung des "Kriegs gegen den Terror" wird nach Auffassung der
Kirche auch künftig "mehr zerstören als schützen".
Auch eine weitere "Hoffnung" der Bundesregierung, die an den
Militäreinsatz gebunden war, hat sich sichtlich nicht erfüllt. Im
Beschluss des Bundestags vom 16. November 2001 hieß es: "Der Deutsche
Bundestag bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die internationale
Kooperation in der Anti-Terror-Allianz auch dazu beitragen wird, die
regionalen Konflikte in Kaschmir, auf dem Balkan und in Zentralasien
einer friedlichen und fairen Regelung zuzuführen." Was wir stattdessen
erlebt haben, war zumindest in der Kaschmir-Region das genaue Gegenteil:
die Eskalation des indisch pakistanischen Konflikts bis an den Rand
eines (atomaren) Krieges. Anstatt also weiter auf die militärische
Option zu setzen, sollte sich der Bundestag jener Erklärungen erinnern,
die er so wohlfeil seit Jahr und Tag abgibt: Dass deutsche Außenpolitik
zuallererst Konfliktprävention, zivile Konfliktbeilegung und der Ausbau
des internationalen Rechts sein soll. Alle relevanten mutmaßlichen
Terroristen, die in Deutschland, in Italien, in Frankreich oder in
Griechenland in den letzten 12 Monaten gefasst wurden, wurden von
zivilen Ermittlern gefasst, nicht infolge von Militäraktionen!
2 Blankoscheck zum Krieg
Das neuerliche Mandat zum Bundeswehreinsatz im Rahmen von "Enduring
Freedom" bleibt genauso vage wie der ursprüngliche Beschluss vom
November letzten Jahres. Der Bundestag soll "das in Art, Umfang und
Einsatzgebiet unveränderte Mandat" für die Dauer eines weiteren Jahres
bestätigen, heißt es im Antrag der Bundesregierung. Doch schon damals
war dem Bundestag nicht klar, welchen Charakter der militärische Einsatz
haben würde und für welche Einsatzorte er gelten sollte. Weder Ziel noch
Ort und Zeitpunkt des Einsatzes oder die Aufgaben der 3.900 Soldaten
waren hinreichend definiert.
Nach über einem Jahr des von den USA angeführten "Kriegs gegen den
Terror" ist aber hinlänglich bekannt, dass es sich um einen ganz
"normalen", das heißt eben auch schmutzigen Krieg handelt, in dessen
Verlauf unschuldige Zivilisten getötet, Infrastruktur zerstört,
Ressourcen vergeudet (Kriegskosten!), das Kriegsvölkerrecht (Genfer
Konvention) missachtet und Menschenrechte gröblich verletzt wurden und
werden. Wer sich seinen Sinn für das internationale Recht bewahrt hat,
muss - nach einem Wort des Gießener Professors für Öffentliches Recht,
Thomas Groß, "konstatieren, dass sich die amerikanische Regierung zum
Ankläger, Richter und Henker eines fiktiven Weltstrafgerichts erklärt
hat, das auf dem Kodex der Blutrache beruht". (Freitag, 16.11.2001)
Dieselben USA sind nicht bereit, sich dem im Aufbau befindlichen
wirklichen Weltstrafgericht, dem "Internationalen Gerichtshof" in Den
Haag, unterzuordnen. Und die Bundesregierung verlangt nun, "abgestimmt
vor allem mit den USA und den europäischen Partnern, den Kampf gegen den
internationalen Terrorismus auch mit militärischen Mitteln
fortzuführen", wie es im Entschließungsantrag heißt.
Mit dem Völkerrecht hat dieser Krieg nichts zu tun. Selbst wenn man der
Meinung war, dass der Afghanistan-Krieg anfänglich nach Art. 51
UN-Charta ein Akt der "Selbstverteidigung" war, so hat er diesen
Charakter längst verloren und ist zu einem unerlaubten Kriegsfeldzug
geworden. Eine Verlängerung des Mandats der Bundeswehr kommt also einem
Blankoscheck zum permanenten Krieg gleich.
3 "Enduring Freedom" der USA schließt Irak-Krieg ein
Die Militäroperation der USA mit dem Namen "Enduring Freedom" war nie
auf Afghanistan beschränkt, sondern hatte einen universellen
Bezugsrahmen. US-Präsident Bush sprach im September 2001 von über 60
Ländern, in denen Terrorismus bekämpft werden müsse. Nach und neben
Afghanistan war schon im Dezember 2001 die "zweite Phase" des US-Krieges
eröffnet worden: mit "Operationen" auf den Philippinen, in Georgien, in
Pakistan sowie in einigen kaukasischen und zentralasiatischen
Republiken. Ende Januar 2002 nannte George W. Bush in seiner Rede "Zur
Lage der Nation" als Gegner und vordringliche Ziele der "dritten Phase"
des Antiterrorkriegs die "Achse des Bösen", bestehend aus Nordkorea,
Iran und Irak. Die USA und Großbritannien bereiten seit Monaten diese
dritte Phase vor mit der Angriffsplanung gegen Irak. All dies ist
Bestandteil des andauernden Kriegs "Enduring Freedom".
Die Bundesregierung und der Bundestag müssen der Öffentlichkeit
erklären, dass eine Verlängerung des Mandats "Enduring Freedom" in
eklatantem Widerspruch steht zu den wiederholten Bekundungen der
rot-grünen Regierungskoalition, sich auf keinen Fall an einem Krieg
gegen Irak zu beteiligen. Spätestens seit dem Besuch des deutschen
Verteidigungsministers Struck in Washington hat die Friedensbewegung den
Verdacht, dass die Bundeswehr entgegen der Friedensrhetorik der Koalition
operativer Bestandteil des drohenden US-Krieges sein wird. Wer in dieser
Situation Füchse und Flotte im Kriegsaufmarschgebiet lässt, nimmt
bewusst in Kauf, zumindest logistischer Bestandteil des Kriegs gegen den
Irak zu werden. Und wer ankündigt, die eigenen Truppenkontingente in
Afghanistan (im Rahmen von ISAF) oder auf dem Balkan (Bosnien, Kosovo,
Mazedonien) zu verstärken, um die US-Truppen für ihren Irak-Einsatz zu
"entlasten", leistet Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg und bricht außerdem sein eigenes Wahlversprechen.
4 Geheimniskrämerei um KSK-Aktivitäten
Mit der Verlängerung des Mandats zum Bundeswehreinsatz im Rahmen von
"Enduring Freedom" wird auch das Verbleiben des rund 100 Mann
umfassenden "Kommandos Spezialkräfte" (KSK) in und um Afghanistan herum
abgesegnet. In den vergangenen 12 Monaten war es nicht möglich, dem
Verteidigungsministerium irgendwelche konkreteren Hinweise auf
Einsatzgebiet und Art der Tätigkeit des KSK zu entlocken. Da es sich um
eine Eliteeinheit handelt, die vornehmlich verdeckt operiere, könnten
keine Angaben über ihren Einsatz gemacht werden, hieß es regelmäßig.
Die Friedensbewegung hält diese Geheimniskrämerei für einen Skandal.
Zumindest im nachhinein müssen Parlament und Öffentlichkeit über die
Aktivitäten von Truppen im Auslands-Kriegseinsatz informiert werden. An
welcher Art von Operationen der anderen "Alliierten", insbesondere der
US-Truppen, war das KSK beteiligt? War es bei Gefangennahmen dabei und
hat es evtl. selbst Gefangene gemacht? Was ist mit diesen Gefangenen
geschehen? Wurden sie z.B. den USA zur weiteren "Behandlung" (etwa in
Guantánamo) überstellt?
Sollte das Parlament der Verlängerung des Einsatzmandats zustimmen, ohne
vorher solche Fragen gestellt zu haben, dann haben wir es nicht nur
mit einer Kriegsermächtigung der Exekutive durch das Parlament, sondern
auch mit einer Selbstentmachtung des Parlaments zu tun.
5 Kriegsbeteiligung beenden!
Es gibt viele Gründe, den Erfolg von "Enduring Freedom" in Frage zu
stellen und an der Berechtigung des "Antiterrorkriegs" grundsätzlich zu
zweifeln. Die Friedensbewegung hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass
es in der Regierungskoalition und der Opposition mehr als nur eine Handvoll Abgeordnete gibt, die sich ähnliche Fragen stellen. Ihnen allen
empfehlen wir, der Regierungsvorlage zur Fortsetzung des Kriegseinsatzes
die Zustimmung zu verweigern. Wenn man ein Jahr lang auf der kriegerischen Fährte war und es stellt sich heraus, dass sie sich als Irrweg erwiesen hat, ist es nicht ehrenrührig, nach zivilen Alternativen Umschau zu halten. Und allen, die darüber hinaus gegen den Irak-Krieg sind, möchten wir sagen: Wer sich am US-Krieg "Enduring Freedom" beteiligt, wird entweder direkt in den Irak-Krieg hinein gezogen oder unterstützt diesen Krieg indirekt. Beihilfe zu einem verbrecherischen Krieg ist auch ein Verbrechen.
Die Friedensbewegung appelliert an die Abgeordneten des Deutschen
Bundestags: Beenden Sie den "Krieg gegen den Terror" und widmen Sie sich
mit aller Kraft den rechtlichen, polizeilichen und sonstigen zivilen
Mitteln zur wirksamen Bekämpfung terroristischer Gewalt.
Mit freundlichen Grüßen
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Dr. Peter Strutynski (Sprecher)
Kassel, den 13. November 2002
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AG Friedensforschung an der Universität Kassel, Peter Strutynski, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel, eMail: strutype@uni-kassel.de