Dass sich die Balken biegen
Gastkolumne von Dietrich Kittner im ND vom 24.3.2001
Der Schriftsteller, Theaterleiter und Kabarettist lebt in Hannover und Österreich
"Lügen, dass sich der Balkan biegt" so habe ich 1999 in meinem Kriegstagebuch geschrieben. Immer wieder beschäftigt hat mich seitdem der Besorgnis erregend irrlichternde Gesichtsausdruck des Kriegsministers, wenn er im Fernsehen Bilder angeblicher Serben-Massaker vorwies, eindrucksvoll schilderte, wie entmenschte Serben mit abgeschnittenen Köpfen Fußball gespielt hätten, oder schön gruselig von Massenvergewaltigungen, aufgeschlitzten Frauen-Leibern und gebratenen Föten berichtete. Dass er sich dabei der in Kriegszeiten üblichen, uralten Taktik der Desinformation bediente, war klar. Nur, so habe ich mich immer wieder auch öffentlich gefragt, wer denkt sich solche Geschichten aus? Woher kommen diese krankhaften Gewaltfantasien? Gibt es im Ministerium einen für Horrorvisionen zuständigen fest besoldeten Perversen vom Dienst? Glaubt der Minister solche Gräuelstories, oder ist all dieser Dreck am Ende seiner eigenen Vorstellungswelt entsprungen? Letzteres würde möglicherweise seinen irrwitzig flackernden Blick während der täglichen Kriegspropaganda-Auftritte erklären.
Inzwischen herrscht Klarheit. Der Minister war kein fiebernder Irrer. Er wusste und weiß, was er tat. Rücktritt wäre angesichts des Gesetzes, das Vorbereitung eines Angriffskrieges und sogar schon Aufstachelung dazu mit langjährigem Freiheitsentzug bedroht, noch eine unangemessen milde Strafe.
Mehr und mehr dringen jetzt Fakten an ans Licht, die belegen: Alles, aber auch alles trifft zu was wir Kriegsgegner über Lügen und Verbrechen der NATO erahnt, befürchtet, vermutet, geschlussfolgert hatten. Von Rambouillet bis Rugovo, vom Flüchtlingsmassaker der NATO bei Djakovica bis zu Uranmunition und Völkermordlüge.
Klar ist nun: bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe gab es keine »humanitäre Katastrophe« im Kosovo. Der angebliche jugoslawische »Hufeisenplan«: eine Fälschung. Rambouillet: Scheinverhandlungen, um der jugoslawischen Seite vorab die Kriegsschuld anzulasten. - Racak? Inzwischen ist der lange geheim gehaltene Untersuchungsbericht des finnischen Forensiker-Teams durchgesickert: kein Anhaltspunkt für ein »serbisches Massaker«. Der Reichssender Gleiwitz stand diesmal auf dem Balkan. Das Leichen-Szenario von Rugovo, das Scharping im Fernsehen tiefbewegt als Beweis für angebliche Massenmorde der Serben vorstellte? Im Gefecht gefallene, uniformierte und bewaffnete UCK-Terroristen. Der deutsche Polizeibeamte Henning Hensch sagt aus, er selbst - als erster OSZE-Beobachter am Ort - habe mitgeholfen, als die im Gelände verstreuten Gefallenen von den verschiedenen Fundorten »zusammen gesammelt« worden seien. Er habe den Minister umgehend darüber in Kenntnis gesetzt, dass dessen »Massaker«- Darstellung falsch sei. Und da hat einmal ein Bundeskanzler Gorbatschow mit Giebels verglichen! - Lügen haben kurze Beine. Die Lüge hat einen irren Blick.
Fest steht inzwischen: Die »humanitäre Nothilfe« der NATO und der anschließend im Kosovo unter Auf- oder Wegsicht der Kfor entfesselte Terror ethnischer Säuberung gegen Roma, Serben, Kroaten und Juden haben ein Vielfaches an zivilen Todesopfern produziert als die Uran- und Clusterbombenwerfer zur Verteidigung ihres Kriegsvorwandes eines angeblichen jugoslawischen Genozids vorweisen können. Alles in allem: Lüge, Täuschung, Betrug, Massenmord. »Soldaten sind Mörder« schrieb Tucholsky. Die heutigen NATO-Politiker konnte er sich noch nicht vorstellen.
Für solche Verbrechen Verantwortliche wären ein Fall für den Generalbundesanwalt, sollte man meinen - stände dem nicht die Realität gegenüber, in der sich hierzulande der Rechtsstaat von allem anderen ableitet, nur nicht vom Recht.
So nützt es wenig, sich nun befriedigt zurückzulehnen: »Seht ihr, wir hatten doch Recht.« Selbst wenn die große Empörung in der breiten Öffentlichkeit noch ausgeblieben ist - vermutlich auch, weil viele sich jetzt schämen, der Lüge so bereitwillig geglaubt zu haben -, die Schreibtischtäter, Lügner und Manipulateure dürfen sich nicht in der Hoffnung auf allmähliches Vergessen wiegen.
Hier ist die linke Opposition im Parlament gefordert, die nicht für den Krieg gestimmt hat und deshalb jedes Recht besitzt, unermüdlich anzuklagen, offen zu legen, nachzubohren. Immer wieder.
Und für uns alle gilt, den zweiten Jahrestag des Überfalls auf Jugoslawien zu nutzen, um Warlords, an deren Händen das Blut Tausender Menschen klebt, öffentlich als das bloßzustellen, was sie sind: Kriegsverbrecher. Schon damit sie es beim nächsten deutschen Krieg nicht mehr so leicht haben wie 1999.