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Die EU auf dem Sprung zur Militärmacht

Eine Analyse von Winfried Wolf


Im Folgenden dokumentieren wir einen längeren Beitrag des früheren Bundestags-Abgeordneten und sicherheitspolitischen Experten Winfried Wolf. Der Artikel wurde in zwei Teilen in der Tageszeitung "junge Welt" veröffentlicht.


Kein Europa der Bürger

Die Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europaparlament am 13. Juni 2004 lag EU-weit bei 44,2 Prozent. In Polen, dem wichtigsten neuen EU-Mitgliedsstaat, erreichte sie 20 Prozent. Die Süddeutsche Zeitung kanzelte die Bevölkerung schon vor der Wahl mit dem Satz ab: »Das Europa der Bürger – es trägt sich beim Urnengang selbst zu Grabe« (12.6.2004). Dabei geht die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger offensichtlich davon aus, daß man nur zu Grabe tragen kann, was zuvor lebendig war. Es gab vor der Wahl kein »Europa der Bürger«, so wie es nach den Leibesübungen vom 13. Juni keinerlei Demokratie und nicht einmal eine ernsthafte demokratische Mitbestimmung auf EU-Ebene gibt. Dies zeigte sich bereits wenige Tage nach der Wahl, als um die Nachfolge des EU-Spitzenmannes Romano Prodi gefeilscht wurde. Es kam erst gar niemand auf die Idee, daß das soeben neu gewählte Europaparlament etwas damit zu tun haben könnte, wer den EU-Spitzenjob verrichtet.

Dabei geht es bei der EU um viel. Es geht sogar um das wichtigste Projekt, das es seit der Bildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert – und aus deutscher Sicht: seit der Bildung des Deutschen Reichs 1871 – gab. Den Eigentümern und dem Topmanagement der in Europa maßgeblichen Konzerne und Banken erscheint seit einigen Jahrzehnten der nationalstaatliche Rahmen, in dem sie sich bewegen – das heißt, in dem sie Arbeitskräfte ausbeuten, in dem sie Steuern (nicht) zahlen, in dem sie auf Infrastruktur, Polizei und Militär zurückgreifen und in dem sie eine Regierung kontrollieren – zu eng. Diese Herren und wenigen Damen sehen dies vor allem mit Blick auf die wichtigsten Konkurrenten so: Die US-amerikanischen Konzerne und Banken verfügten von vornherein über einen weit größeren Binnenmarkt, um den herum sie Schutzzölle und Handelshemmnisse errichten konnten, aufgrund dessen sie über eine weit mächtigere Regierung, die für sie militärisch die Eroberung der Weltmärkte absicherte, zurückgreifen konnten. Hier galt und gilt es, einen Gegenpol zu schaffen. Nicht ein »Europa der Bürger«, wohl aber ein Europa der Konzerne und Banken und eine EU der Bosse und Bürokraten war und ist das Ziel. Die Einrichtung des Europaparlaments, die Wahlen zum Europäischen Parlament und die Europäische Verfassung sollen dieses Projekt demokratisch ummänteln.

Alte Ziele in neuem Gewand

Die wichtigsten materiellen Ziele der Europäischen Union wie Zollunion, gemeinsame Wirtschaftspolitik, Europäische Zentralbank und einheitliche Währung, wie sie in der neuen EU-Verfassung, die Mitte Juni von den EU-Regierungen beschlossen wurde, festgeschrieben sind, wurden zu einem frühen Zeitpunkt wie folgt formuliert: »Die Einigung Europas ... ist eine zwangsläufige Entwicklung. Die ungeahnten Fortschritte der Technik, die Schrumpfung der Entfernungen infolge der modernen Verkehrsmittel ... und der Zug der Zeit ... nötigen Europa zum engeren Zusammenschluß. Europa ist zu klein geworden für sich befehdende und absperrende Souveränitäten. Es besteht ... das Ziel ... einer europäischen Zollunion und eines freien europäischen Marktes, fester innereuropäischer Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Währungsunion.«

So lautete der Entwurf einer Denkschrift des deutschen Auswärtigen Amtes »über die Schaffung eines Europäischen Staatenbundes« vom 9. September 1943. (1)

Die klügsten Vertreter von Nazi-Deutschland und die mit ihnen eng verbundenen Bosse der großen deutschen Banken und Konzerne strebten an, nach einem militärischen Sieg im Zweiten Weltkrieg ein Europa zu schaffen, dessen wirtschaftliche Grundlagen denjenigen entsprechen, die heute mit der EU verwirklicht werden. Damit erfolgt keine Gleichsetzung zwischen der NS-Europapolitik und der EU-Politik bzw. der Berliner EU-Politik. Es wird lediglich nüchtern festgestellt, daß der materielle und vor allem der wirtschaftliche Gehalt der jeweiligen Europa-Strategien identisch ist.

Da die führenden deutschen Wirtschaftskreise und das deutsche Militär zweimal, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, dabei scheiterten, ein solches Europa mit militärischen Mitteln zu schaffen, lag nach 1945 der Versuch nahe, vergleichbare Zielsetzungen mit friedlichen Mitteln zu verfolgen. Stationen auf diesem Weg waren 1950 die Bildung der Montanunion (EGKS – Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), 1956 die Bildung einer »Europäischen Atomaren Gemeinschaft – Euratom« und 1957 die Bildung der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)«. Diese »europäische Zusammenarbeit« hatte von Anfang an eine militärische Komponente. So sollte – vorangetrieben durch die Regierungen in Paris und in Bonn – schon 1952 die »Europäische Verteidigungs-Union (EVU)« gebildet und damit vorzeitig eine deutsche Wiederaufrüstung betrieben werden. Bereits damals hätte dieses Projekt in Widerspruch zu einer transatlantischen militärischen Zusammenarbeit, wie es sie mit der Nato gab, gestanden. Die EVU scheiterte dann am französischen Parlament, in dem zu dieser Zeit noch die Furcht vor einem Westdeutschland mit eigenem Militär überwog. Anstelle der EVU wurde später als europäische militärische Struktur die Westeuropäische Union (WEU) gebildet, die allerdings bis in die neunziger Jahre hinein ein Schattendasein führte.

F. J. Strauß: »Warum nicht wir?«

Bereits bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 war die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit von Paris und Bonn entscheidend für deren Zusammenhalt und Zukunft. Aus französischer Sicht sprach für eine enge Kooperation der einstigen Kriegsgegner von 1870/71, 1914–1918 und 1939–1945 die Hoffnung auf eine deutsche wirtschaftliche Unterstützung bei der Umstrukturierung der eigenen Ökonomie. Nach Krieg und Besatzung war die Wirtschaft Frankreichs zusätzlich mit Kolonialkriegen in Indochina (bis 1954) und Algerien (bis 1962) und mit dem Verlust des größeren Teils seines Kolonialreichs belastet. Es war die EWG, die in dieser Hinsicht Frankreich eine Auffangstellung bot. Der EWG-Vertrag regelt explizit das spezielle Verhältnis Frankreichs zu seinen »überseeischen Ländern und Territorien«. Aus Kolonien wurden in der Sprache der EWG-Bürokraten »Überseeterritorien«. Diese Bestimmungen gelten bis heute fort. Als der Euro eingeführt wurde, wurde ausdrücklich festgelegt, daß die französische Regierung in ihren Kolonien und in den von Paris abhängigen Regionen, in der sogenannten Franc-Zone, eine eigene Währungspolitik praktiziert.

Es ist interessant, daß die westeuropäische Linke das »Projekt Europa« jahrzehntelang in seiner Bedeutung nicht erkannte. Nur vereinzelt gab es Kritik. So forderte der französische Intellektuelle Frantz Fanon, der sich im Algerien-Krieg auf die Seite der algerischen Befreiungsfront stellte, in seinem 1961 verfaßten Werk »Die Verdammten dieser Erde« dazu auf, die verlogenen Begriffe von einem Europa der »Demokratie« und »Menschenrechte« nicht nachzuplappern. Die nachfolgende Passage aus diesem Buch liest sich wie eine vorweggenommene Kritik am Schengener Abkommen und an der EU-Verfassung. »Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. Nur beim Menschen hat es sich knausrig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch. Brüder, wie sollten wir nicht begreifen, daß wir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen.«

Die französischen Regierungen erhofften sich, mit der Achse Paris–Bonn und später Paris–Berlin die bereits wieder erstarkte westdeutsche Wirtschaftsmacht in eine EWG einbinden zu können. Dabei sollte diese EWG politisch, militärisch und kulturell von Frankreich bestimmt sein. Aus Bonner Sicht sprach für das Bündnis mit Paris der Wunsch, die NS-Zeit und die daraus resultierende politische Isolierung überwinden zu können. Gleichzeitig bot eine Achse Paris–Bonn die Chance zur Herausbildung eines europäischen Wirtschaftsblocks, der langfristig zu einer Herausforderung für die Hegemonialmacht USA werden sollte.

1967 erschien in Frankreich das Buch »Die amerikanische Herausforderung«, verfaßt von Jean-Jacques Servan-Schreiber, einem führenden Wirtschaftsjournalisten. Darin wurde die EWG als europäische Antwort auf die Macht der US-Konzerne definiert. 1968 verfaßte Franz Josef Strauß, damals der wichtigste Politiker, der für einen wirtschaftlich und militärisch erstarkenden deutschen Imperialismus eintrat, das Vorwort zu dieser Streitschrift. Darin hieß es, die EWG sei bereits »zur Frontlinie der amerikanischen Industrie, zum Schlachtfeld ihrer Macht geworden«. Strauß stellte die rhetorische Frage: »Warum die Amerikaner? Warum nicht wir?« Strauß begründete kurz darauf in seiner Zeit als Finanzminister der Großen Koalition (1966–1969) die Ziele der deutsch-französischen Zusammenarbeit folgendermaßen: »Mit dem Entschluß Frankreichs und Deutschlands, ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern ... läßt sich die politische Einigung Westeuropas in Gang bringen. Unsere beiden Länder sollten ihre Mittel auf allen Gebieten der modernen Hochleistungstechnik für wirtschaftliche und militärische Zwecke zusammenlegen.«

EWG als »Resonanzboden«

Doch genau zum letzteren kam es nicht. Trotz mancher politischer Gesten und Bemühungen dominiert auf der wirtschaftlichen Ebene auch innerhalb Europas die alte Konkurrenz der Konzerne und Banken. Außerdem hat sich der Abstand zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaft und ihren jeweiligen größten Unternehmen vergrößert. Darauf wird zurückzukommen sein. Sicher ist, daß das Projekt Europa auf der jeweiligen nationalen Seite immer so gesehen wurde – als ein Projekt, um die eigene Wirtschaftsmacht zu vergrößern und »Rest-Europa« zu dominieren.

So definierte auch der maßgebliche deutsche Industriellenverband BDI 1967 sein instrumentelles Verhältnis gegenüber der EWG. Danach diene diese in erster Linie als »Resonanzboden zur Verfolgung der spezifischen westdeutschen Interessen«. Die europäische Zoll- und Freihandelsunion schuf in erster Linie einen vergrößerten Raum für ein Wettrennen der jeweils nationalen Konzerne in die europäischen und internationalen Spitzenpositionen.

In der Globalisierungsdebatte wird in der Regel der Aspekt der Blockkonkurrenz und der »nationalen« Eigentümerstrukturen der großen Unternehmen nicht gesehen und von einer abstrakten »Macht der großen Konzerne« ausgegangen. Wenn überhaupt die »nationalen Farben« von Konzernen angesprochen werden, dann geraten die US-amerikanischen Konzerne ins Visier. Tatsächlich erschien das Projekt EWG/EG/EU lange Zeit eher als eine rein technische und kaum als eine machtpolitische Angelegenheit. Für diese Annahmen gab es historische und wirtschaftspolitische Gründe. Schließlich wurde die EWG lange Zeit von den USA gefördert. 1961 hatte der US-Präsident John F. Kennedy erklärt: »Der Gemeinsame Markt ... sollte unser größter und einträglichster Kunde sein. Seine Verbrauchernachfrage wächst ständig, vor allem die Nachfrage nach jenen Gütern, die wir am besten produzieren. ... Es ist ein geschichtliches Zusammentreffen von Notwendigkeit und großer Möglichkeit: In demselben Augenblick, in dem wir dringend eine Steigerung unserer Exporte brauchen, um unsere Zahlungsbilanz zu schützen und unsere Truppen im Ausland zu bezahlen, entsteht jenseits des Atlantiks ein gewaltiger neuer Markt.«

Für diese US-Position gab es damals drei gute Gründe. Erstens waren die USA mit großem Abstand Weltmarktführer; der Anteil der US-Wirtschaft am Weltmarkt lag bei 16 Prozent, der westdeutsche bei sieben und derjenige Frankreichs bei fünf Prozent. Der britische Anteil an den gesamten Exporten lag noch bei zehn Prozent, wobei Großbritannien damals kein EWG-Mitglied war.

Zum zweiten spielten in dieser Periode US-Konzerne innerhalb Europas eine deutlich größere, teilweise eine dominante Rolle. 1960 stammten von allen weltweit hergestellten Pkw noch 50 Prozent von den Fließbändern in US-Fabriken, wobei es in den USA nur »nationale« Pkw-Hersteller gab: General Motors (GM), Ford, Chrysler und American Motors. 25 Prozent stammten aus Europa, wobei damals ein gutes Drittel der europäischen Pkw-Produktion auf Produktionsstätten der US-Konzerne in Europa entfiel, also auf die Pkw-Fertigung bei GM Europe (bzw. die der GM-Töchter Opel und Vauxhall in Europa), auf Ford Europe und auf die damalige Chrysler-Tochter Simca (die später als »Talbot« bei Peugeot landete und inzwischen vom Markt verschwand). Rund zehn Prozent der weltweiten Pkw-Fertigung entfielen 1960 auf Japan. Ähnlich sah es in anderen wichtigen Branchen aus. Unter diesen Bedingungen profitierten die US-Konzerne in erheblichem Maß von einem wachsenden europäischen Binnenmarkt.

Neue Blockkonkurrenz

Vor allem aber gab es zum Zeitpunkt der zitierten Kennedy-Rede – drittens – noch ein gemeinsames »höheres« Ziel aller kapitalistischen Länder: die Rückgewinnung der Kontrolle über diejenigen Gebiete, die seit 1917 (Rußland) bzw. seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Mittel- und Osteuropa und China) bzw. in der Zeit des Kalten Kriegs (Kuba, Indochina) einen nichtkapitalistischen Weg eingeschlagen hatten. Solange dieses Ziel den Kapitalismus einte, solange standen gemeinsame Institutionen wie die NATO oder allgemeine politische Orientierungen wie die »transatlantische Zusammenarbeit« im Zentrum. Die innerimperialistische Konkurrenz war in dieser Periode teilweise verdeckt und schwelend. Allerdings hatten sich im Rahmen dieser fortgesetzten »stillen« Konkurrenz die Kräfteverhältnisse bereits erheblich verändert. Die westeuropäischen und die japanischen Konzerne und Banken eroberten von Jahr zu Jahr mehr Terrain und drängten die US-Konzerne zurück.

Insofern war die »Wende« 1989/90 auch eine Wende hinsichtlich der Dynamik, mit der sich der Kapitalismus bewegt. Mit dieser historischen Zäsur entfiel nicht nur die eine und andere soziale Rücksichtnahme. Es entfiel vor allem das übergreifende Interesse des Kapitals, die Kräfte gemeinsam darauf zu orientieren, die Arbeitskraft der mehr als 1,5 Milliarden Menschen in der UdSSR, in Mittel- und Osteuropa, in China und Indochina auszubeuten. Damit aber brach die innerkapitalistische Konkurrenz offen aus. Die Blockkonkurrenz verschärfte sich deutlich. Fast unmittelbar nach dieser Wende schlossen sich 1994 zunächst die USA und Kanada zur NAFTA zusammen, zum North American Free Trade Agreement. Kurz darauf wurde Mexiko in diesen Block einer nordamerikanischen Zollunion einbezogen. Derzeit versucht die US-Regierung, einen noch größeren Wirtschaftsblock zu schmieden, der auch Mittel- und Südamerika einschließt.

Fast zur selben Zeit wurde in der EG der »Maastricht-Vertrag« abgeschlossen. Während sich fast vier Jahrzehnte lang die innereuropäische Entwicklung im Schneckentempo vollzog, wurde nun mit dem Maastricht-Vertrag ein ehrgeiziger Zeitplan vorgegeben: Schaffung einer Europäischen Zentralbank, Abschottung der EU nach außen (Schengener Abkommen), Schaffung einer EU-Währung und EU-Osterweiterung. Mitte 2004 sind alle diese Ziele realisiert.

Die aktuellen innerimperialistischen Kräfteverhältnisse sind von einem krassen Widerspruch geprägt. Das führende EU-Land BRD war 2003 Exportweltmeister – deutlich vor den USA liegend. Die EU als Ganzes liegt bei den Weltmarktanteilen nochmals deutlicher vor dem nordamerikanischen Block Nafta. Es gibt nur noch wenige Branchen, in denen US-Konzerne führend sind – so mit Microsoft im Bereich der PC-Software. Anfang 2004 konnte im wichtigen Segment der Herstellung von zivilen Flugzeugen der europäische Konzern Airbus erstmals Boeing von Platz eins verdrängen.

Auf der anderen Seite ist die militärische Macht der USA unangefochten. Dies wurde im April 2004 deutlich. Damals zielte die Strategie des »shock and awe« (das Schockieren und in Ehrfurcht erstarren lassen) nicht nur auf das irakische Militär; sie wurde auch mit Blick auf die Militärs in Rußland, China und Europa in Szene gesetzt. Die aktuellen US-Rüstungsausgaben betragen mehr als 40 Prozent der weltweiten und mehr als das Doppelte der Rüstungsausgaben, die die EU-Länder in der Summe aufbringen.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, sondern logisch, daß ein Kernpunkt im Entwurf der neuen EU-Verfassung, auf den sich die 25 Regierungen der erweiterten EU am Wochenende nach der EU-Wahl einigten, in der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« und in der Verpflichtung zur Aufrüstung besteht.

Die wirtschaftliche und militärische Hegemonie deckten sich in der Geschichte des Kapitalismus immer. Vor ziemlich genau 100 Jahren hatten wir eine vergleichbare Situation und einen ähnlichen Widerspruch. Damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde der britische Imperialismus zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet von den USA auf Platz eins abgelöst. Militärisch blieb er weiter die Nummer eins. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Widerspruch aufgelöst – die USA rückten auch militärisch auf Rang eins. Diese Doppelhegemonie wurde mit dem Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegsperiode zementiert. Die jetzt wieder gespaltene Hegemonie mit einer führenden Militärmacht USA und einer führenden Wirtschaftsmacht EU unter deutscher Dominanz stellt erneut einen antagonistischen Widerspruch dar, der nach einer Lösung drängt.

Kerneuropa auf Kriegskurs

Als Anfang der 1990er Jahre der geplante Zusammenschluß der Fluggesellschaften KLM, SAS, Swissair und Austrian Airlines scheiterte, wies das US-Wirtschaftsblatt Business Week auf eine bedeutende Schwäche der europäischen Wirtschaftswelt hin: »Eine Restrukturierung der europäischen Industrie, die ohne Rücksicht auf nationalstaatliche europäische Grenzen erfolgte, wäre exakt der letzte, entscheidende Schritt hin zu Produktionseinheiten auf höherer Stufe. Es handelt sich jedoch um einen Schritt, den Europa offensichtlich nicht machen kann.«

Tatsächlich gibt es knapp 50 Jahre nach der Bildung eines europäischen Wirtschaftsblocks kaum einen »europäischen« Konzern und – sieht man von Rüstung und Luftfahrt ab und berücksichtigt man die Übernahme von Aventis durch Sanofi – keinen bedeutenden deutsch-französischen Konzern. Versuche in dieser Richtung gab es – doch sie scheiterten. Genauer gesagt: Es setzte sich jeweils ein »Fusionsmodell« durch, bei dem die Flagge der Muttergesellschaft in der Regel national blieb. NSU wollte mit Citroen zusammengehen – tatsächlich verwandelte sich NSU in Audi und wurde VW-Tochter; Citroen wurde von Peugeot übernommen. Hoesch (BRD) und Hogoovens (Niederlande) gingen zu »Estel« zusammen – und scheiterten. Heute ist Hoesch Teil von ThyssenKrupp; Hogoovens wurde von British Steel übernommen. Osram sollte mit dem niederländischen Konzern Philipps zusammengehen; tatsächlich wurde Osram in Siemens eingegliedert; Philipps übernahm Grundig. Renault sollte mit Volvo mit »gleichberechtigtem Management« zusammengehen. Tatsächlich wurde Volvo in das Ford-Imperium eingefügt; Renault übernahm Nissan. Beiersdorf sollte zum französischen Unternehmen Oréal kommen; doch die deutsche Seite bestand darauf, daß die Nivea-Creme deutsch bleibt.

Als vor drei Monaten der deutsch-französische Pharmakonzern Aventis von dem französischen (und beim Umsatz halb so großen) Unternehmen Sanofi geschluckt wurde, äußerte der neue Boß Jean-Francois Dehecq den klassischen Satz, der in ähnlicher Form weltweit bei allen Fusionen zu hören ist: »Bei uns herrscht im neuen Vorstand Gleichberechtigung. Allerdings bin ich der Chef.«

Kurz: Unter den 200 größten Konzernen der Welt gibt es 76 US-amerikanische, 40 japanische und 68, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben. Rechnet man die Schweiz hinzu, sind es sogar 74. Doch es handelt sich nicht um »europäische Konzerne«. Es sind auch nicht, wie in der NAFTA (North American Free Trade Agreement), Konzerne, die zu einem dominierenden Nationalstaat – in der NAFTA zu den USA – zählen. Vielmehr sind es 22 deutsche, 17 französische, zehn britische, sechs niederländische, sechs italienische, drei spanische und je ein schwedischer bzw. luxemburgischer Konzern. Hinzu kommen mit Unilever und Royal Dutch Shell zwei britisch-niederländische Unternehmen, deren »Binationalität« allerdings kein Ergebnis der EU, sondern über fast 100 Jahre gewachsen ist.

Basis und Überbau

Damit aber haben die EU-Strategen ein Problem. Ohne Basis kein Überbau. Will sagen: Ohne ökonomische Basis, ohne europäisches Kapital, kann sich der gesamte Überbau – EU-Kommission, EU-Verfassung, Europäische Zentralbank (EZB) bzw. Einheitswährung Euro – als an die Wand genagelter Pudding erweisen. Kommt es nicht zu einer Europäischen Union mit entweder europäischen Konzernen oder mit überwiegend Konzernen, die zu einem führenden Nationalstaat zählen, dann wird die EU immer von inneren nationalstaatlichen Spannungen gekennzeichnet sein und Gefahr laufen, in Krisenzeiten auseinanderzubrechen.

Dieses Problem war fast ein halbes Jahrhundert lang kein zentrales – solange sich die Weltmarktkonkurrenz nicht verschärfte. Seit der Wende 1989/90 leben wir jedoch in der neuen alten Welt des klassischen, ordinären Kapitalismus. Die Konkurrenz verschärft und die Krisenerscheinungen vertiefen sich; die Militarisierung ist allgemein. Die Blockbildung ist für die Konzerne und Banken in Europa die einzige Chance, in diesem Kampf zu bestehen bzw. die Konkurrenz der US-Unternehmen auf die Ränge zu verweisen.

In dieser Situation gibt es theoretisch drei Wege, wie die EU sich im kapitalistischen Sinn »weiter« entwickeln kann: Erstens, indem die Dominanz der deutschen Konzerne und Banken weiter ausgebaut wird. Zweitens, indem die »Achse Berlin–Paris« als alleinige, strategische angesehen wird und deutsche und französische Konzerne die ökonomische und politische Macht in der EU an sich reißen. Und drittens gibt es den Weg von Militarisierung und Krieg, die Schaffung eines Europas im Feuer von Kriegen.

Der erste Weg wird seit langem beschritten. Das Gewicht der deutschen Ökonomie innerhalb der EWG (EG bzw. EU) hat sich im ganzen letzten halben Jahrhundert, seit Gründung der EWG 1957, von Jahr zu Jahr verstärkt. Die EU-Osterweiterung ist ein weiterer großer Schritt in diese Richtung. Die deutschen Unternehmen konnten seit 1990 ihre Positionen in Mittel- und Osteuropa weit stärker aufbauen als dies den Großunternehmen aus anderen EU-Staaten gelang. Dabei gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und österreichischen Unternehmen und Banken. Letztere agieren oft als deutsche Vorhut. Erstere können ohnehin davon ausgehen, daß es zu einem zweiten und »friedlichen Anschluß« kommt: Die österreichische Wirtschaft wird längst zu einem erheblichen Teil vom deutschen Kapital kontrolliert.

Doch dieser erste Weg gleicht einer Gratwanderung. Wenn es die deutschen Konzerne und Banken zu bunt treiben, wenn sie ihre reale Vormachtstellung zu brutal ausnutzen, werden sie »Rest-Europa« gegen sich aufbringen. Vor diesem Hintergrund war das Gerangel um das Abstimmungsprozedere in den EU-Institutionen wichtig. Vor allem Berlin drängte darauf, daß die Einigung über das Statut der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 (der sogenannte Kompromiß von Nizza) rückgängig gemacht und die Möglichkeit ausgebaut wurde, das deutsche Stimmengewicht im Verein mit wenigen Bündnispartnern zu Mehrheitsentscheidungen im deutschen Interesse zu führen. Durch die Abwahl der Regierung Aznar in Spanien und das Scheitern der Regierung Miller in Polen wurde in diesem Punkt auf der EU-Regierungskonferenz die deutsche Position weitgehend durchgesetzt.

Spannungen

Der zweite Weg, die deutsch-französische Zusammenarbeit, wird beim »Projekt Europa« ebenfalls seit fünf Jahrzehnten beschritten. Dabei gab es Höhen und Tiefen. Derzeit läuft die Achse Paris–Berlin wieder einmal nicht rund. Wer diese aktuellen deutsch-französischen Spannungen verstehen will, der sollte die Sätze zur Kenntnis nehmen, die am 23. September 1971 der französische Staatspräsident Georges Pompidou sprach: »Im Aufbau Europas verfügt Deutschland über eine überlegene Wirtschaftsmacht – vor allem weil seine Industrieproduktion um fast die Hälfte größer ist als die unsere. Deshalb habe ich die Verdoppelung unserer Industriekapazitäten in den nächsten zehn Jahren als vorrangiges Ziel formuliert.«

Diese Zielsetzung schlug nicht nur fehl. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich der wirtschaftliche Abstand zwischen Deutschland und Frankreich und vor allem derjenige zwischen den deutschen und französischen Topkonzernen nochmals vergrößert. 1980 lag der addierte Anteil des deutschen und des französischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) am BIP der EG mit 41,1 Prozent ähnlich hoch wie im Jahr 2000 (40,2 Prozent). Dabei zählte die EG damals lediglich zwölf Mitgliedsländer; im Jahr 2000 waren es 15 Länder – Österreich, Finnland und Schweden waren hinzugekommen. Das »spezifische deutsch-französische Gewicht« konnte selbst in einer erheblich vergrößerten EG/EU gehalten werden.

Doch das jeweilige Gewicht der beiden Räder an der Achse Paris–Bonn/Berlin hatte sich deutlich verlagert. 1980 lagen die Anteile Frankreichs und Westdeutschlands am EG-BIP sehr nahe beieinander: Der deutsche Anteil machte 22,1 Prozent aus, der französische 19 Prozent. Im Jahr 2000 liegt der deutsche Anteil am EU-BIP bei 24 Prozent, der französische bei 16,5 Prozent. Das heißt: Die Tatsache, daß die Achse Paris-Bonn/Berlin innerhalb der erweiterten EU weiterhin dominiert, war in erster Linie dem gesteigerten Gewicht der deutschen Wirtschaft geschuldet. Das hat zweifellos auch mit dem seit 1990 vergrößerten Deutschland zu tun. Doch bei einem Blick auf den Welthandel stellt sich ein ähnliches Ergebnis ein. Der Anteil der französischen Wirtschaft an den Weltexporten lag 1980 bei knapp sechs Prozent und sank seither kontinuierlich – bis auf unter fünf Prozent 2003. Die deutschen Exporte erreichten 2003 den Rekordwert von 12 Prozent; Deutschland wurde wieder Exportweltmeister. Der Abstand zwischen den deutschen und den französischen Exporten vergrößert sich damit kontinuierlich. Beim Vergleich der industriellen Produktion blieb es im großen und ganzen bei dem Abstand, den Pompidou vor 33 Jahren festgestellt hatte: Der Output der deutschen Industrie liegt um knapp 50 Prozent über demjenigen der französischen.

In der aktuellen deutsch-französischen Debatte geht es um die Schaffung »europäischer Champions«. Doch macht man die Frage zum Maßstab, welche deutschen und französischen Konzerne unter den sogenannten Global Players vertreten sind, dann wird das Ergebnis in Paris als bitter empfunden. 2003 befanden sich unter den 20 größten europäischen Industriekonzernen sechs deutsche, jedoch nur drei französische. Dabei nehmen in der Regel die deutschen Topunternehmen in ihrer jeweiligen Branche die Spitzenposition ein. Im Fahrzeugbau liegen DaimlerChrysler und VW vor Peugeot und Renault. Im Kraftwerksbau hat Siemens einen mehr als dreimal größeren Umsatz als Alstom. In der Stahlbranche ist ThyssenKrupp stärker als Arcelor, wobei es sich bei dem letztgenannten »nur« um einen luxemburgischen Konzern mit starkem französischem Einfluß handelt. Ähnlich sieht es im Bereich der Banken und Versicherungen aus: Die Deutsche Bank liegt deutlich vor der Nummer eins in Frankreich, der BNP Paribas. Die Allianz liegt vor Axa.

Klammern wir die Rüstung aus, dann verbleiben nur drei industrielle Branchen, in denen ein französischer Champion vor der deutschen Konkurrenz liegt: im Ölgeschäft, wo Total (zuvor: TotalFinaElf) keine deutsche Konkurrenz kennt; in der Bahntechnik, in der Alstom vor allem mit den TGV-Hochgeschwindigkeitszügen und der Niederflur-Tram »Citadis« deutlich vor Siemens rangiert, während der Münchner Konzern wiederum mit dem Diesel-ICE und den Combino-Straßenbahnen veritable Einbrüche erlitt – und in der Pharmabranche, in der der jüngst fusionierte Konzern Sanofi-Aventis auf Platz drei der Weltrangliste landete – hinter dem US-Konzern Pfizer und dem britischen Unternehmen GlaxoSmithKline und weit vor der deutschen Konkurrenz (Boehringer-Ingelheim, Bayer und Schering).

Nicht zufällig geht es beim aktuellen deutsch-französischen Zoff um zwei dieser drei Bereiche. Nicht zufällig erhöht die deutsche Seite seit Mitte 2004 den Druck auf die französische Regierung, den Alstom-Konzern ganz oder weitgehend an Siemens auszuliefern.

Krieg als »dritter Weg«

Die einzigen Bereiche, in dem es eine funktionierende deutsch-französische Zusammenarbeit gibt, sind die Luftfahrt, die Raumfahrt und die Rüstung. Dies ist der dritte Weg, aus der EU eine in sich geschlossene Blockkonkurrenz zu den USA zu machen. Es ist auch der Weg, die »wirkliche Souveränität« der EU zu demonstrieren. Zu einem »richtigen« Staat gehörte immer die Funktion, »eigene« Kriege führen zu können – und sie dann auch zu führen. Die gegenwärtige Emanzipation Europas ist nichts anderes, als die Kriegsbefähigung der EU.

Dabei handelt es sich bei Luftfahrt und Rüstung um Sektoren, die in erheblichem Maß von staatlichen Aufträgen und Subventionen bestimmt sind und teilweise direkt unter staatlicher Kontrolle betrieben werden. Wenn man so will, handelt es sich um »Industriepolitik pur« oder, in den Worten von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, um einen »wettbewerbspolitischen Sündenfall«. So waren denn auch Jacques Chirac und Gerhard Schröder wie zwei Taufpaten zugegen, als im Herbst 1999 der deutsch-französisch-spanische Rüstungszusammenschluß EADS gefeiert wurde.

Seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurde das »Europa der Militarisierung« dynamisiert. Die EADS stellt den Kern eines großen militärisch-industriellen Komplexes dar. Indem EADS zu zwei Dritteln Airbus kontrolliert, gehen Rüstung und zivile Luftfahrt eine enge Symbiose ein – wie auch im Fall Boeing in den USA. Der einzige große europäische Rüstungskonzern, der bisher »außen vor« blieb, ist BAe (British Aerospace Systems). Dabei erhält BAe inzwischen mehr militärische Aufträge vom Pentagon als von europäischen Regierungen. Das hatte zweifellos die Partnerschaft, die Tony Blair mit George Bush im Irak einging, begünstigt. Die nächsten EU-weiten militärischen Zusammenschlüsse sind bereits in der Pipeline: Im Mai 2004 wurde der Zusammenschluß der deutschen Militärschiffbaukapazitäten (HDW in Kiel, Deutsche Nordseewerke in Emden und Blohm & Voss in Hamburg) beschlossen. Dieser Zusammenschluß zielt darauf ab, demnächst den deutsch-französischen Zusammenschluß aller Marinekapazitäten, eine »EADS zur See«, zu bilden. In Frankreich wären Thales und eine Sparte von Alstom Teil dieser Fusion im Kriegsschiffbau der EU. Weitere Zusammenschlüsse stehen zur Debatte – im Panzerbau und bei den Triebwerksherstellern (MTU/BRD, Snecma/Frankreich und Fiat Avio/Italien).

Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, daß in dem Entwurf für die EU-Verfassung steht: »Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. Es macht Sinn, wenn in dieser Verfassung der neuen EU-Rüstungsagentur exekutive Rechte zur Durchsetzung dieser Aufrüstungsverpflichtung gegeben werden. Und es macht Sinn, wenn in dem Protokoll über die »ständige strukturierte Zusammenarbeit«, das auf der letzten EU-Regierungskonferenz gleichzeitig mit dem Entwurf der EU-Verfassung verabschiedet wurde, der Aufbau eines militärischen Kerneuropas festgelegt wird. Dort heißt es, daß dieses militärische Kerneuropa »bis 2007 über die Fähigkeit verfügen (muß) ... innerhalb von fünf bis 30 Tagen Missionen ... aufzunehmen«. Gemeint ist: Kriege zu führen.

Die beschriebenen »drei Wege«, um zu einem neuen EU-Staat zu gelangen, sind nur in der Theorie getrennt. In der Praxis werden alle drei Wege gleichzeitig beschritten. Das Erschreckende ist: Der Weg, der am ehesten »Erfolg« haben wird, ist der dritte, derjenige über Rüstung und Krieg. Dies war auch der Weg, der 1871 zum Deutschen Reich führte. Ähnlich der EWG/EG 1957 bis 1990 hatte vor 1871 die vorausgegangene lange Phase des Freihandels (»Norddeutscher Bund«) nicht zur Herausbildung eines deutschen Kapitals geführt. Erst der Überfall Napoléons III. auf Deutschland 1870 und der dann folgende preußische Feldzug gegen Frankreich führten in den Spiegelsaal von Versailles, in dem das Deutsche Reich ausgerufen wurde. Wobei schon im Gründungsakt neue Aufrüstung, Imperialismus und Weltkrieg angelegt waren.

Lenin revisited

In einer frühen Debatte zum Thema Globalisierung schrieb ein Verfechter der Globalisierungsthese, es habe sich ein »Ultraimperialismus« herausgebildet. Dabei sei »an die Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das verbündete Finanzkapital« getreten. Demgegenüber stand eine zweite Position, die diese Art eines »neuen Kapitalismus« hinterfragte, auf die fortexistierende Konkurrenzsituation und auf die sich erneut abzeichnende offene Konfrontation mit den Sätzen verwies: »Ultraimperialistische Bündnisse sind ... in der kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise Atempausen zwischen Kriegen ... Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nichtfriedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.«

Diese Debatte fand ziemlich genau vor neunzig Jahren statt. Das erste Zitat stammt von Karl Kautsky, das zweite von Wladimir Iljitsch Lenin. Der letztere sollte auf erschreckende Weise recht behalten. Den scheinbaren »Ultraimperialismus« mit seinem »verbündeten Finanzkapital«, das die »gemeinsame Ausbeutung der Welt« organisiert, gab es nicht. Ansätze, die man dafür halten konnte, lösten sich bald auf zugunsten einer verschärften Konkurrenz und von Aufrüstung, mündend in den Weltkrieg.

Die »zivilen« Tendenzen, die heute von einigen dem Projekt EU zugeschrieben werden, und die dann besonders zivil aussehen, wenn sie als Kontrast zu dem »aggressiven US-Imperialismus« dargestellt werden, gibt es nicht. Vor allem begab sich die EU längst auf den Weg, eben diese Phase verschärfter Konkurrenz, Aufrüstung und Orientierung auf Kriege einzuleiten.

Die Kräfte, die dieses Europa der Militarisierung betreiben, sind oft weit geschichtsbewußter als die Linke. Sie demonstrieren gelegentlich offen, daß sie die »friedliche« Durchdringung Europas in einem engen Zusammenhang mit den zwei militärischen Versuchen der deutschen Konzerne und Banken sehen, ein Europa unter deutscher Hegemonie zu errichten.

Der VW-Konzern ließ am 15. März 1999 in den großen tschechischen Tageszeitungen ein ganzseitiges Inserat unter der Kopfzeile »Die große Frühjahrsoffensive« schalten. Er warb dabei für VW und für die VW-Tochter Skoda. Viele Tschechen wurden dabei an die große Frühjahrsoffensive erinnert, die auf den Tag genau fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte, als deutsche Truppen am 15. März 1939 das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren errichteten. Die graphische Gestaltung der Anzeige wies im Zentrum eine alte Militärkarte auf.

1) Das NS-Dokument von 1943 ist wiedergegeben in: Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900-1945, Bonn 1994, S. 965

Aus: junge Welt, 14. und 15. Juli 2004


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