Friedensforscher/innen legen Memorandum zur EU-Außen- und Sicherheitspolitik vor:
"60 Thesen für eine europäische Friedenspolitik"
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Am 4. Mai 2005 stellten Wissenschaftler/innen der Uni Kassel und Marburg in einer Pressekonferenz ein Memorandum vor, das mit der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hart ins Gericht geht. Weder der umstrittene Entwurf zu einem EU-Verfassungsvertrag, der im Bundestag und Bundesrat ratifiziert worden ist, noch die im Dezember 2003 auf dem EU-Gipfel abgenickte "Europäische Sicherheitsstrategie" (ESS) werden den Herausforderungen, vor denen Europa und die Welt stehen, gerecht, kritisieren die Friedensforscher/innen. Die herrschende "neoliberale Weltwirtschaftspolitik" trage dazu bei, "ökonomische Abhängigkeiten, soziale Ungleichheit und regionale Disparitäten zu vertiefen und in neuer Qualität zu erzeugen", heißt es in dem Memorandum. "Die daraus resultierenden Konflikte, sofern sie sich gewaltförmig äußern, sollen dann mit einer militärisch gestützten 'Sicherheitspolitik' beantwortet werden." Damit werde aber nicht nur das Ziel, Gewalt einzudämmen, verfehlt, sondern neue Gewalt generiert. "Das Symptom wird zum Objekt militärischen Handelns, die Ursachen bleiben oder werden verstärkt." Demgegenüber müsse eine "alternative Strategie" an den realen Ursachen von Gewalt und Krieg ansetzen. In den internationalen Beziehungen heiße das, "alles zu unterlassen, was die reale Kluft zwischen der 'Ersten' und der 'Dritten Welt' vergrößern könnte, und all jene Bedingungen zu fördern, die den Staaten und Gesellschaften der Welt eine selbstbestimmte Entwicklung und eine gleichberechtigte Mitwirkung in der Staatengemeinschaft auf der Basis gegenseitiger Sicherheit ermöglicht."
Von solchen Einsichten ist die Realpolitik der EU heute weiter entfernt denn je. Insbesondere der EU-Verfassungsvertrag ist auf massive Kritik der Friedensbewegung und Friedensforschung gestoßen, beinhaltet er doch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu permanenter Aufrüstung und die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsagentur zur Optimierung der gemeinsamen Rüstung. Damit hebt der Entwurf Verträge in Verfassungsrang, die zuvor auf Regierungskonferenzen von Maastricht über Nizza bis Helsinki geschlossen wurden. Wichtig ist weiterhin, dass sämtliche Entscheidungen in Fragen von Krieg und Frieden der Kontrolle durch das Europäische Parlament entzogen bleiben. Die Operationalisierung dieser Bestimmungen liefert die zeitgleich mit dem Verfassungsentwurf beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS), die auch die Möglichkeit zu präventiven Militäreinsätzen weltweit eröffnet. Die ESS selbst fordert – neben den USA – für Europa die Rolle eines "Global Player" und leitet daraus die Notwendigkeit eines militärischen Interventionismus ab. Die voll im Gang befindliche Aufstellung der EU-"Battle Groups" unterstreicht dieses offensive Konzept.
Dabei geht dies nach Meinung der Wissenschaftler nicht notwendig aus der Logik der Argumentation der EU-Macher hervor: Die ESS geht aus von einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der die weltweit wachsende Armut, den Hunger, die Unterernährung und Krankheiten und den daraus resultierenden Zusammenbruch ganzer Gesellschaften als zentrale Ursachen für die Zunahme von Konflikten benennt. Ein durchaus richtiger Befund, meinen auch die Kasseler Wissenschaftler. Und genau hier setzen sie mit ihrem Memorandum, den "60 Thesen" an. Eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, muss bei den Ursachen der Konflikte im globalen System ansetzen, nicht aber deren Symptome militärisch bekämpfen. Schon bei der Ausarbeitung der Charta der Vereinten Nationen wurden diese Ursachen benannt als "Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art", ganz wie die Achtung der (auch materiellen) Menschenrechte als Fundament einer friedensfähigen internationalen Ordnung bezeichnet wurden.
Eine Analyse der Konfliktursachen muss daher die Triebkräfte benennen, die vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges ungehemmt die Weltwirtschafts- und -sozialordnung bestimmen und deren negative Auswirkungen auf die Weltgesellschaft in zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen präzise analysiert wurden. Eine solche Analyse wäre zugleich ein produktiver Beitrag zum Verständnis und zur deeskalierenden Reaktion auf den gebetsmühlenhaft beschworenen "Internationalen Terrorismus", dessen militärische Bekämpfung sich nicht nur ganz offensichtlich als kontraproduktiv erweist, sondern in den Augen der Entrechteten dieser Welt zur Rechtfertigung der Anwendung extralegaler Gewalt gerät.
Genau hier könnte und müsste eine diesen Namen verdienende Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik ansetzen: Der Weg von der EGKS über die EWG und EG zur EU zeigt überdeutlich, dass eine sich an sozialen Standards orientierende wirtschaftliche und politische Integration es vermochte, den alten Kontinent zu einen und Jahrhunderte alte Gegensätze zu überwinden. Das Pochen der EU auf Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte ist mehr als ein Lippenbekenntnis: Es ist Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum auf der Grundlage von sozialem Ausgleich und von Rechtssicherheit. Und die Binnenleistungen der EU haben ihr eine Außenwahrnehmung als Zivilmacht eingebracht, die ein gewaltiges politisches Kapital darstellt.
Genau hier liegen auch die Chancen der EU, die sich aber - durchaus als "Global Player" - in ihrer Programmatik absetzt vom militarisierten Unilateralismus der USA und statt militärischem Interventionismus auf die Instrumente der Konfliktprävention, der Entwicklungshilfe und Diplomatie, der Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze und der Menschenrechte setzt. Aus ihrer eigenen Geschichte heraus kann – und müsste – die EU jene Instrumente einer Sicherheitspolitik weiterentwickeln, die allein geeignet sind, unsere Welt friedlicher zu machen. Hierzu gehören neben fruchtbaren Ansätzen wie der Europäischen Initiative für Menschenrechte und Demokratie oder der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs vor allem auch der Ausbau eines wirksamen supranationalen Gewaltmonopols, wie es in der UN-Charta angelegt ist, anstelle nationaler oder supranationaler Interventionsarmeen, die letztlich immer Instrumente rein nationaler oder (im Bündnis) kollektiver Interessendurchsetzung bleiben müssen und in unserer ökonomisch wie politisch und militärisch asymmetrischen Welt nur konfliktverschärfend und damit destabilisierend wirken.
Der gerade von der deutschen Außenpolitik immer wieder beschworene Multilateralismus ist nicht das Gleichziehen einer militarisierten europäischen Außenpolitik mit den USA, sondern eine Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen und eine strikte Befolgung längst etablierter Normen des Völkerrechts. In diesem Sinne könnte eine zivile europäische Außen- und Sicherheitspolitik einen nachhaltigen Beitrag zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen leisten, die auch gegenüber der US-Außenpolitik alternative, mittelfristig konstruktivere (und deshalb nachahmenswerte) Maßstäbe setzen könnte.
Die "60 Thesen" beruhen auf Diskussionen, welche die Verfasser im Rahmen eines Arbeitskreises der ÖSFK (Österreichisches Studienzentrum für Friedensforschung und Konfliktlösung) geführt haben. An der Abfassung des Textes waren Michael Berndt, Werner Ruf und Peter Strutynski (alle AG Friedensforschung an der Uni Kassel) sowie Ingrid al Masry (Uni Marburg) beteiligt. Die 60 Thesen sollen als eine Art "Memorandum" Bundes- und Europapolitikern sowie der Fachöffentlichkeit (Friedenswissenschaft, Politikwissenschaft) und einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Denn, so die Wissenschaftler, die Verfassungskampagne der Bundesregierung "lügt und verschweigt". Es sei eine Lüge, wenn behauptet wird, eine Ablehnung der Verfassung durch das Plebiszit in einem beliebigen EU-Land oder durch das Verfehlen einer qualifizierten Mehrheit in einem Ratifizierungsorgan (in der Regel das Parlament) würde die Einheit der EU gefährden. "In Wahrheit behalten im Falle des Scheiterns dieser Verfassung alle bisher geschlossenen EU-Verträge ihre Gültigkeit; der überwiegende Teil dessen, was in der Verfassung, die ja ein "Verfassungsvertrag" ist, kodifiziert werden soll, ist also bereits geltendes EU-Recht und bleibt das auch. Weitere Integrationsschritte sind auf dem normalen Weg der Vereinbarung durch den Europäischen Rat jederzeit möglich. Der Verfassungsentwurf müsste dann überarbeitet und neu diskutiert werden. "Systematisch verschwiegen" werde zudem, dass die EU-Verfassung einen umfangreichen Teil enthält, der die Militarisierung der EU regelt. Weder auf der Homepage der Bundesregierung noch in ihren Hochglanzprospekten zur EU-Verfassung noch in den Verlautbarungen der Regierungsparteien werde über den Inhalt der Art. I-41 oder III-309 ff informiert. Ein öffentlicher Diskurs über die darin vorgenommenen Weichenstellungen sei auf dieser Basis nicht möglich. Von der Bundesregierung werde daher eine "sachgemäßere und offene Informationspolitik" verlangt.
Auch wenn die Kasseler Friedensforscher nicht glauben, den Zug der Ratifizerung der EU-Verfassung hier in Deutschland noch stoppen zu können, so gebe es doch im Ausland, etwa in Frankreich, noch genügend kritisches Potenzial, um die Reise in die Militarisierung der EU verlangsamen oder gar stoppen zu können. Unabhängig davon enthält das Memorandum zahlreiche Vorschläge und Forderungen, die sich auf eine längerfristige Zivilisierung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik beziehen. So wird etwa in These 53 formuliert: "Eine auf die Durchsetzung der (auch materiellen) Menschenrechte und der Demokratie orientierte Politik, wie sie bereits in der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte festgeschrieben ist, wäre - ganz im Sinne der in der ESS beschworenen Probleme der Weltgesellschaft - ein effektiveres Mittel im Kampf gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln als die willkürliche und völkerrechtswidrige Anwendung von Gewalt (...). Die Umsetzung einer solchen Strategie in konkrete Politik und ihre sichtbaren Erfolge würden den immer wieder beschworenen Prinzipien der EU-Außenpolitik Glaubwürdigkeit verleihen und könnten schließlich einen zivilisierenden Einfluss auch auf die US-Außenpolitik haben."
Dr. Michael Berndt, Kassel
Dr. Ingrid El Masry, Uni Marburg
Prof. Dr. Werner Ruf, Uni Kassel
Dr. Peter Strutynski, Uni Kassel