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REUTERS/ Khalil Ashawi 06.04.2017
„Die
Wahrheit stirbt zuerst“: Keine objektiven Berichte über Giftgaseinsatz bei
Idlib
„Wer steht hinter welcher Meldung?“ – diese Frage
drängt sich angesichts der widersprüchlichen Berichte über den mutmaßlichen
C-Waffen-Einsatz in Syrien auf, so der Politikwissenschaftler und
Nahost-Experte Werner Ruf. Mit einem baldigen Frieden in Syrien ist kaum zu
rechnen- zu viele Akteure engagieren sich im „Stellvertreter“-Konflikt .
Herr Ruf, zu Syrien: Wie lässt sich aus der Ferne beurteilen, was bei Idlib
geschah. Dort soll es einen Giftgaseinsatz gegeben haben. Was gibt es dazu
Aktuelles?
Dazu gibt es nicht viel Aktuelles. Es gibt Meldungen der unterschiedlichen
Seiten. Das Problem ist natürlich ein dummer, alter Spruch, aber er stimmt: Im
Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Im Zeitalter der Medien ist natürlich
Kriegsführung über Nachrichten erst recht angesagt. Niemand kann genau sagen,
was dort vor Ort passiert. Die Meldungen sind alle Interessen geleitet und von
daher sehr schwer einzuschätzen.
Nun waren die letzten Meldungen, dass selbst die Uno nicht sagen kann:
War es überhaupt ein Flugzeugangriff? War es eine Bombardierung? Wie lässt sich
einschätzen, dass diese Meldungen, was da passiert sein soll, immer so schnell
wechseln?
Das zeigt natürlich einerseits, dass diese Meldungen alle relativ unsicher
sind, dass man keine wirklich objektiven und nachprüfbaren Nachrichten bekommt.
Das andere ist, dass man, um sich ungefähr ein Bild machen zu können, weniger
auf die Meldungen schauen muss, sondern zu fragen hat: Wer steht hinter welcher
Meldung? Welche Interessen stehen dahinter?
Nun gibt es aus der Politik Äußerungen zu dem Ereignis, nach denen die
Politik sehr wohl weiß, wer verantwortlich dafür ist. Die Bundesregierung
vermutet ganz deutlich die Schuld bei Damaskus, auch die neue US-Regierung
schiebt die Schuld auf Assad. Wie lässt sich das einschätzen?
Soweit man das überhaupt tun kann, lässt sich das meines Erachtens so
einschätzen: Man will jetzt – nachdem die Assad-Regierung doch einiges an
Terrain gewonnen hat, nachdem Russland ein wichtiger Mitspieler in dem Konflikt
geworden ist – versuchen, das Assad-Regime doch noch ausschalten. Das sagen
ganz klar die Äußerungen, die jetzt von der EU kamen. Auch Sigmar Gabriel: „Mit
Assad kann man nicht verhandeln.“ Das Assad-Regime dürfe nicht überleben. Das
sind eigentlich die Überlegungen, die da dahinter stecken. Das könnte ein Stück
weit die Aktualität dieser Meldungen erklären. Alles das ist wirklich im Nebel
herum stochern.
Es gab eigentlich den Eindruck einer positiven Wende, dass eine Lösung
gefunden wird, auch mit der legitimen Regierung in Damaskus. Nun sieht es
wieder anders aus. Beobachten lässt sich auch, dass solche Massaker-Meldungen
immer wieder auftauchen im Zusammenhang mit Verhandlungen, Konferenzen,
Gesprächen, die stattfinden zwischen Konfliktbeteiligten. Ist das ein Muster,
was immer wieder genutzt wird, um zu verhindern, dass es zu einer Verhandlungslösung
kommt?
Ich denke, das kann man so sagen. Wenn man überlegt, dass in Syrien bzw.
über den Konflikt in Syrien seit 2012 verhandelt wird, dass wir inzwischen bei
Genf III oder gar IV angelangt sind. Und dass nie in diesen Verhandlungen
irgendein Ziel erreicht wurde. Das liegt daran, dass die auswärtigen Mächte –
und derer sind viele, nicht nur die USA, Russland und der Westen, sondern dazu
gehören der Iran, natürlich Saudi-Arabien, vor allen Dingen die Türkei, aber
auch Katar –, ihre eigenen Interessen verfolgen. Der erste Sonder-gesandte der
Vereinten Nationen in Syrien war kein Geringerer als Kofi Annan, der nach vier
Monaten das Handtuch geworfen hat mit der Begründung, er habe keine
Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Da liegt eigentlich der
Hund begraben: Man kann nicht, indem man sagt „Der darf verhandeln und der darf
nicht verhandeln“ von vornherein die Verhandlungen sabotieren. Es müssen alle
an dem Konflikt beteiligten oder interessierten Mächte an den Tisch.
Wie lässt sich erklären, dass in der neuen US-Regierung eine Rückkehr zu
alten Positionen stattfindet? Es gab für kurze Zeit die Hoffnung, dass der neue
US-Präsident Donald Trump eine vernünftigere Haltung zu diesem ganzen Problem
einnimmt…
Ich denke, dass Politik nicht nach Meinungen oder Bauchgefühlen von
Menschen wie etwa Donald Trump gemacht wird. Sondern Politik wird gemacht von
Interessen. Und da geht es darum, dass eben der Westen in dieser Region nach
wie vor das Sagen haben will, dass man mit so dubiosen Partnern wie der Türkei
oder Saudi-Arabien zusammenarbeitet. Das ist das, was eigentlich die
Kontinuität in der Politik erklärt. Das zeigt sich auch am Verhalten von Trump
jetzt.
Wie lässt sich das Interesse Russlands in dem Konflikt einschätzen, auch die
militärische Beteiligung an dem Konflikt seit 2015? Ein ehemaliger Diplomat hat
im Interview mit Sputnik erklärt, die Interessen Russlands lassen sich nicht
mit denen des Westens gleichsetzen. Wie schätzen Sie das ein?
Gut, sie lassen sich nicht eins zu eins vergleichen. Das ist richtig. Aber
ich denke, Russland hat ein massives Interesse in der Region. Russland will
wieder oder immer noch eine gewisse Rolle in der internationalen Politik
spielen. Russland hat mit Tartus einen wichtigen oder den einzigen Kriegshafen außerhalb
des eigenen Territoriums. Russland hat eine lange Tradition der engen
Zusammenarbeit mit Damaskus. Und will, wenn es in der Region auch mitspielen
will, natürlich über Syrien ein Bein in der Tür behalten. Andererseits muss man
wissen und sehen, dass Russland sich in diesem Konflikt bis 2015 ungeheuer
zurückgehalten hat und erst seitdem deutlich Partei für Assad ergriffen hat –
was dann zu Geländegewinnen der Assad-Regierung geführt hat. Das sind Dinge,
die man verstehen muss vor dem Hintergrund dessen, was an jüngster westlicher
Politik betrieben wird, was man bezeichnen könnte als Eindämmung Russlands – so
wie es vor einem Vierteljahrhundert die Politik der Eindämmung gegenüber der
Sowjetunion gegeben hat. Und das scheint sich Russland nicht mehr bieten zu
lassen. Darin verstrickt sind natürlich auch die anderen Interessen, die
Russland hat, siehe Konflikt in der Ukraine. Das ist eine Sache, die auch
geopolitisch über den Nahen Osten hinausreicht und die deswegen auch besonders
gefährlich ist.
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, hat im Februar
2016 in einem Interview erklärt: Erst das militärische Eingreifen Russlands hat
überhaupt dafür gesorgt, dass es zu ernsthaften Verhandlungen kommt, und
hat dem Westen vorgeworfen, keinen Plan für diese Situation und auch für den
Krieg gegen den IS zu haben.
Das ist absolut richtig. Der Westen reagiert meistens ad-hoc und die
westlichen Interessen – wenn man die so nennen will – sind natürlich auch sehr
vielfältig. Die Interessen der Europäer – so es überhaupt europäische
ausformulierte Interessen gibt – sind nicht identisch mit denen der USA,
geschweige denn mit denen der übrigen Partner. Und dazu kommt, dass die
regionalen Großmächte ihre eigene Politik in diesem Konflikt verfolgen. Regionale
Großmächte wie Saudi-Arabien, Iran, Türkei, die hier ihre eigene Suppe kochen
und deren Interessen zum Teil diametral gegeneinander stehen. Dann kommen die
Allianzen mit den großen Mächten dazu und dadurch ist das Ganze so ungeheuer
kompliziert.
Mittlerweile ist das Engagement vieler Mächte im Konflikt so groß, dass ich
nicht sehe, wie dieser Konflikt schnell gelöst werden könnte auf dem Rücken der
Formel, die alle gebetsmühlenhaft vor sich her tragen: Nämlich, die Syrer
sollen selbst entscheiden.
Es wird ja wieder verhandelt, es werden immer wieder Gespräche geführt. Gibt
es Hoffnung auf eine absehbare Lösung?
Also wenn ich auf die Geschichte dieses Konflikts und seine Dauer
zurückschaue, dann sind das sechs Jahre, dann sehe ich da relativ wenige
Chancen. Weil eben immer wieder versucht wird, über Stellvertreter, die ich
vorhin schon genannt habe, die eigenen Interessen durchzusetzen. Das geht schon
los bei der Begrifflichkeit: In unseren Medien wird immer von „Rebellen“
gesprochen. Wer sind diese „Rebellen“? Es gibt in Syrien kaum eine nennenswerte
Gruppe, die nicht einen ausländischen Sponsor und Unterstützer hätte. Das
heißt, ausländische Interessen spielen hier eine Rolle. Der Begriff „Rebell“
suggeriert, all das wären Syrer. Dabei wissen wir, dass Zehntausende von
Kämpfern aus allen möglichen Ländern in Syrien und teilweise im Irak unterwegs
sind. Da von „Rebellen“ zu sprechen, ist ein großes vollmundiges Wort. Man
nimmt nur den Islamischen Staat (IS) aus, aber andere islamistische Gewaltakteure
wie die al-Nusra-Front, die jetzt Fatah al-Sham heißt, oder Dschund al-Islam,
oder wie sie allen heißen, haben alle ihre ausländischen Financiers und
Protektoren.
Interview: Tilo Gräser