Von Ellen
Brombacher, aus „Neues Deutschland“
vom 31.1.2009
Auf der
gegen die israelische Aggression im Gaza-Streifen gerichteten Demonstration am
17. Januar 2009 in Berlin trug ein vor mir laufender Mann ein Plakat mit der
Aufschrift: »Schluss mit dem Holocaust in Gaza«.
Ich
kämpfte lange mit mir. Ich fragte mich: Habe ich in Anbetracht der grauenhaften
Ereignisse in Gaza das moralische Recht, dem Mann – es war, wie ich später
erfuhr, ein Palästinenser – zu sagen, dass dies ein unzulässiger Vergleich ist?
Zugleich bewegte mich die Frage: Habe ich im Wissen um die Shoah das Recht,
dieses Plakat einfach zu übersehen?
Schließlich
sprach ich ihn an. Als er mir all die furchtbaren Tatsachen aufzählte, die das
Leben und Sterben der Palästinenser in Gaza bestimmen – die Blockade, die
Bombardements, die ermordeten Kinder – antwortete ich ihm, eben deshalb sei ich
hier, und ein Verbrechen müsse als Verbrechen benannt werden dürfen. Dennoch
sei der Vergleich mit dem Holocaust nicht richtig und schade daher auch dem
Anliegen der Demonstration. Hier schaltete sich seine Gefährtin, eine Deutsche,
ein. Sie teile meine Auffassung. Deshalb sei sie auch nicht bereit gewesen,
dieses Plakat zu tragen.
Welcher
Gruppierung ich angehöre, fragte mich der Mann. Ich sei Kommunistin, Mitglied
der LINKEN; sei Deutsche und Jüdin. Erstaunen. Und dann die Frage: »Und dennoch
bist Du hier?« »Selbstverständlich. Ich verurteile die israelische Aggression.«
Wir verabschiedeten uns. Kurze Zeit darauf trug der Palästinenser das Plakat
nicht mehr. Wir verloren uns zunächst aus den Augen.
Eher
keine so zu erwartende Geschichte. Jenseits von Stereotypen. Auch deshalb sei
diese gegen eine von Vorurteilen dominierte Äußerung Stephan J. Kramers,
Generalsekretär des ZR der Juden in Deutschland, gesetzt. »Weltweit«, so Kramer
am 15. Januar 2009, »wird der Ruf nach einer sofortigen Einstellung der israelischen
Operation im Gaza-Streifen laut und lauter. Und wieder steht der Judenstaat in
der Öffentlichkeit als der Friedensverweigerer da. ›Quod erat demonstrandum –
die bösen Juden‹, jubeln die üblichen Kritiker, und viele, die es nicht besser
wissen, stimmen ihnen zu.«
Hat
Kramer in Anbetracht von Hamas-Raketen auf Südisrael recht? War der Ruf nach
einer sofortigen Einstellung der als Selbstverteidigung deklarierten
israelischen Operation im Gaza-Streifen fragwürdig oder gar antisemitisch
geprägt? Ich meine: Nein. Bietet die Verurteilung dieses Krieges Antisemiten
Spielräume? Durchaus. Muss also zum Krieg schweigen, wer sich dem Vorwurf nicht
aussetzen will, Antisemit zu sein? Und umgekehrt: Dürfen wir antisemitische
Töne tolerieren, weil Israels Krieg so abscheulich ist?
Dem
Nahost-Konflikt lässt sich weder unter der Losung »Tod Israel!« beikommen, noch
mit jenen im BAK Shalom üblichen Phrasen. Wer, wie dieser beim – der LINKEN
nahestehenden – Jugendverband ['solid] angesiedelte Bundesarbeitskreis Shalom, die
Solidarisierung mit den von Besatzerwillkür geschundenen Palästinensern
ablehnt, der sollte für sich nicht in Anspruch nehmen, Lehren aus dem
Faschismus gezogen zu haben. Okkupationspolitik im Sonderfall Absolution zu
erteilen, weil die heute in Israel Herrschenden vorgeben, ihre Politik diene
den Interessen einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit, kann nicht die
Sache von Linken sein.
Seit mehr als vierzig Jahren hat Israel – gegen die Weltmeinung und die der UN – palästinensisches Gebiet okkupiert und dessen Bewohner um ihr Selbstbestimmungsrecht betrogen; seit fast zwanzig Jahren, und zwar bevor die ersten Selbstmordanschläge stattfanden, hat Israel den Gaza-Streifen, gipfelnd in einer völligen Blockade, abgeriegelt. Nicht denkbar ohne die USA, schwer vorstellbar ohne die EU. Und da sollen die Linken, zu deren Selbstverständnis doch seit je ihre Mitwirkung beim Emanzipationskampf aller Menschen und Völker gegen Ausbeutung und Unterdrückung gehört, schweigen?
Okkupationspolitik im Sonderfall Absolution zu erteilen, weil
die heute in Israel Herrschenden vorgeben, ihre Politik diene den Interessen
einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit, das kann nicht die Sache von
Linken sein.
Zugleich
ist es Pflicht der Linken, nicht zu ignorieren, dass der Antisemitismus
zunimmt, eine üble Flut; verbrecherisch in seinem Ergebnis. Alte, schon von den
Faschisten hochgeputschte »Theorien« über die jüdische Weltverschwörung werden
an Stammtischen erneut »diskutiert«. Und die Holocaust-Leugnung ignorierend,
nutzt ein deutscher Papst die Gunst der Stunde. Nichts rechtfertigt dies.
Niemand sollte die verheerende Tradition bedienen, die da meint, am
Antisemitismus seien die Juden selber schuld. Ich weiß, dass es manchmal schwer
ist, genau zu bestimmen, wo Grenzen überschritten werden und Kritik an Israel
in das Wiederaufleben antijüdischer Ressentiments übergeht. So wenig der
Vorwurf gerechtfertigt ist, Kritik an Israel sei per se antisemitisch, so wenig
ist Antisemitismus unter der Flagge der Israelkritik ein Kavaliersdelikt.
Die
Linken müssen diese Gratwanderung bewältigen, weil alles andere Spaltung
bedeutet. Das ist ein ungeheurer Anspruch an unseren Intellekt und an die
emotionale Intelligenz. Noch einmal: Die Existenz von Antisemitismus liefert
keine Begründung für die Akzeptanz der israelischen Regierungspolitik und die
von Heuchelei begleitete, zur Staatsräson erklärte, vorbehaltlose Unterstützung
dieser Politik durch die Offiziellen der BRD. Das Vorhandensein von
Antisemitismus entschuldigt auch nicht, dass Klaus Lederer (DIE LINKE) sich am
11. Januar 2009 dazu hergab, ausgerechnet auf einer erklärtermaßen die
israelische Aggression rechtfertigenden Kundgebung zu sprechen. Und ich
schreibe dies in Kenntnis der dort von ihm gehaltenen Rede.
Zugleich
gilt: Das Wissen um den latent vorhandenen Antisemitismus und um die
Möglichkeit für Antisemiten, diesen in scheinbarer Kritik an Israel auszuleben,
verpflichtet nicht zum Schweigen, sehr wohl aber zu angemessenen Tönen, die
jeden Verdacht unmöglich machen, Judenhass sei im Spiel. Oder welcher Verdacht
sonst sollte aufkommen, wenn auf Demonstrationen Parolen ertönen wie »Tötet
alle Juden«, »Judenschweine« oder »Juden raus«?
Freilich:
Letzteres kostet niemanden das Leben – gegenwärtig! Aber Antisemitismus lässt
sich nicht verhandeln ohne Geschichtsbezug. Und auch die schrecklichen
Geschehnisse im Nahen Osten lassen sich nicht ohne diesen Rückblick verstehen.
Ich teile die von Moshe Zuckermann im April 2008 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung
geäußerte Position: »Was immer inzwischen am israelischen Shoah-Gedenken
ideologisiert worden ist, in Abrede kann nicht gestellt werden, dass die Shoah
noch immer als Grundmatrix der israelischen Staatsgründung erachtet werden muss
...«
Um jedes
Missverständnis zu vermeiden: Weder die Jahrhunderte andauernde grausame
Verfolgung der Juden, noch Auschwitz als Symbol des Unfassbaren und doch so
real Gewesenen rechtfertigen das schlimme Schicksal der Palästinenser: Den
ihnen alltäglich widerfahrenden Rassismus, die Vertreibungen, ihr Elendsdasein
in Flüchtlingslagern, die ungesühnten Massaker von Sabra und Schatila, die
Blockade Gazas, die Kriege von 1967, 1982 und 2007 sowie die jüngste, Menschenrechte
zerfetzende Aggression.
Im
Gegenteil: Auschwitz ist der Schrei nach Menschlichkeit. Aber Auschwitz ist
auch der Schrei: »Mit uns nie wieder!« Der ist ebenso berechtigt, wie er
missbrauchbar ist. Und er wird von den Herrschenden in Israel unerträglich
missbraucht. Und die sind nicht isoliert. Sie vertreten zugleich die
imperialistischen Interessen der USA und der NATO in der Region. Dass der,
seine Waffen auf Palästinenser richtende, die Uniform der israelischen
Streitkräfte tragende Enkel des Auschwitz-Überlebenden nicht an imperiale
Interessen, aber vielleicht – in der Überzeugung, das Existenzrecht Israels zu
verteidigen – an seine im Gas erstickten Vorfahren denkt, ist von tiefer
Tragik.
An der
imperialen Interessenlage ändert dies nichts! Und für die geschundenen
Palästinenser – zumal sie daran keinerlei Schuld tragen – sind die aus der
Geschichte der Juden resultierenden Traumatisierungen nicht nachvollziehbar. Zu
sehr ist ihre Gegenwart traumatisierend.
Für
politisch aufgeklärte Menschen kann es nur einen Weg geben, sich der Lage im
Nahen Osten zu stellen: Die realen Interessen zu analysieren, um die es dort
wirklich geht, gepaart mit einem hohen Maß an emotionaler Intelligenz, welche
die aus der Geschichte beider Völker resultierende Brisanz des Nahost-Konflikts
erfasst. Solcherart Herangehen lässt weder Platz für irgendeine Spielart des
Rassismus im Umgang mit den Palästinensern, die Islamophobie eingeschlossen,
noch für den mörderischen Antisemitismus.
Man lese
wieder einmal das Standardwerk »Der gelbe Fleck« von Rosemarie Schuder und
Rudolf Hirsch. Und ich empfehle nachdrücklich Hans Lebrechts Schrift »Die
Palästinenser« – ein einzigartiges Lehrbuch. Auch wenn er es bereits vor einem
Vierteljahrhundert geschrieben hat, sind doch die von ihm beschriebenen
Ursachen und Charakteristika des Nahost-Konfliktes in den seitdem vergangenen
Jahrzehnten im Wesentlichen geblieben. Einseitigkeiten und Verkürzungen wird
man bei ihm vergeblich suchen. Er schreibt über die verheerende Rolle der
britischen Kolonialmacht bei der Schürung der Konflikte zwischen Palästinensern
und Juden ebenso wie über das konfliktschürende Verhalten der Protagonisten des
Zionismus und der arabischen Reaktion. Einfache Antworten auf eines der
kompliziertesten internationalen Probleme lässt er nicht zu, und zieht wohl
gerade deshalb mit Selbstverständlichkeit den Schluss, dass in diesem Konflikt
zweifelsfrei die um ihre verbrieften Rechte kämpfende palästinensische
Bevölkerung die Hauptlast trägt.
Durch die
Jahrzehnte hindurch blieben auch die unabdingbaren Forderungen aktuell, dass es
weder eine Existenz des jüdischen Volkes auf Kosten des palästinensischen geben
darf, noch eine Infragestellung der Existenz des Staates Israel. Ein solcher
Zustand ist nicht herstellbar ohne den Rückzug der israelischen Armee aus den
widerrechtlich besetzten Gebieten, ohne die Beendigung der Siedlungspolitik und
ohne eine Lösung der Flüchtlingsfrage.
Auch in
der LINKEN ist der Streit über all diese Fragen entbrannt, so darüber, ob die
Partei der Staatsräson verpflichtet ist, wenn es um das Verhältnis zu Israel
geht. Ich gehöre zu jenen, die sich diese Diskussion nicht gewünscht haben.
Andere haben sie provoziert. So der BAK Shalom und dessen Unterstützer. Der BAK
Shalom versteht sich selbst als »Plattform gegen Antisemitismus, Antizionismus,
Antiamerikanismus und regressiven Antikapitalismus«. In seiner
Grundsatzerklärung heißt es: »Dass Linke häufig reaktionäre Regime verteidigen,
statt diese zu kritisieren, resultiert aus einem obsoleten Antiimperialismus
... Das Kernstück des Antiimperialismus ist der Hass auf die Vereinigten
Staaten von Amerika, auf die alle Übel der Welt projiziert werden. Im
schlimmsten Fall wird die vermeintliche jüdische Dominanz angeprangert. Dies
ist die offene Flanke hin zum Antisemitismus.«
Mit
anderen Worten: Wer aggressive, expansionistische US-Politik kritisiert, muss
damit rechnen, dass ihm Antisemitismus vorgeworfen wird. Mit diesem Vorwurf
verbindet sich eine Ungeheuerlichkeit: Das Gedenken an die sechs Millionen
grauenhaft ermordeter Juden soll, einem moralischen Schutzschild gleich, vor
das aggressive Agieren des »modernen« Imperialismus gehalten werden.
Unübersehbar die Absicht: Antikapitalistische und antiimperialistische Kämpfe
sollen diskreditiert werden. Letztlich geht es dabei vor allem darum, die in
der Partei DIE LINKE und im ihr nahestehenden Jugendverband gleichermaßen
vorhandenen friedenspolitischen Prinzipien über Bord zu werfen. In einer von
namhaften Unterzeichnern getragenen Erklärung »Staatsraison und Regierungsbeteiligung«,
Mai 2008, erfolgt die prinzipielle Auseinandersetzung mit dieser Absicht.
Um auf
den Anfang meines Artikels zurückzukommen: Nachdem ich mich an jenem 17. Januar
von dem Palästinenser und seiner deutschen Gefährtin verabschiedet hatte, trafen
wir bei der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor noch einmal aufeinander.
Miteinander redend, so als kannten wir uns seit langer Zeit, gingen wir dann
gemeinsam bis zum Potsdamer Platz. Es wurde zu einem wichtigen
Miteinandersprechen – für uns alle drei. Zum Abschied umarmten wir uns, und ich
wünschte mir, dass ich die beiden nicht aus den Augen verliere. Aus meinem
Gedächtnis ganz sicher nicht.