Alles - nur keine Volksabstimmung. Zur Einigung des Lissabonner EU-Gipfels auf einen Reformvertrag
Von Andreas Wehr *
Für Kommissionspräsident José Manuel Barroso ist das Ergebnis des Lissabonner Gipfels schlicht "historisch". Und der portugiesische Ministerpräsident mit dem schönen Namen Sócrates sieht die EU gar in der Lage, "die Herausforderungen der Welt" anzunehmen. So und ähnlich hatte es aber schon oft geklungen, etwa nach der Vorlage des Konventsentwurfs für eine Verfassung im Juli 2003 oder bei der feierlichen Unterzeichnung des Verfassungsvertrags im Oktober 2004. Doch jedesmal folgte die kalte Dusche. Im Dezember 2003 scheiterte man am Veto der - damals noch sozialdemokratisch geführten - polnischen und der spanischen Regierung, die nicht einsehen wollten, daß ihre Länder an Einfluß in der Union verlieren sollten. Und im Frühsommer 2005 spielte "der große Lümmel" (Friedrich Engels) Volk nicht mit: Franzosen und Niederländer stimmten mit Non bzw. Nee.
Doch diesmal soll es endlich klappen, wissen doch die herrschenden Eliten inzwischen genau, was auf keinen Fall passieren darf. Auf keinen Fall darf es erneut zu Volksabstimmungen über den Vertrag kommen. Sieht man einmal von Irland ab, wo ein Referendum bei jeder Einschränkung der Souveränität des Landes von der Verfassung her vorgeschrieben ist, soll in allen anderen Mitgliedsländern allein in den Parlamenten über den Vertrag abgestimmt werden. Denn nur auf die Parlamente, nicht auf die Völker ist Verlaß. Zur Erinnerung: Die französische Nationalversammlung stimmte im Februar 2005 mit einer Mehrheit von 98 Prozent dem Verfassungsvertrag zu, der dann nur ein halbes Jahr später von der Bevölkerung abgelehnt wurde. In Luxemburg waren von den 60 Abgeordneten des Parlaments sogar alle dafür. Bei der Volksabstimmung erhielt dort das Nein dennoch mehr als 43 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dies soll sich jetzt auf keinen Fall wiederholen. Und so wurden die Verhandlungen über den Verfassungsvertrag in diesem Frühsommer erst wieder aufgenommen, als feststand, daß das neugebildete niederländische Kabinett Balkenende kein neues Referendum ansetzen werde und als am Sieg von Nicolas Sarkozy, der eine neue Volksabstimmung immer kategorisch ausgeschlossen hatte, kein Zweifel mehr bestand.
Damit das Bedürfnis nach einem Referendum auch nirgendwo sonst in der Union aufkommt, wurde der gescheiterte Verfassungsvertrag insoweit abgeändert, daß er den "großen Lümmel" nicht länger aufreizt. Das beginnt bei seiner Bezeichnung: "Der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. (...) Der Ausdruck 'Verfassung' wird nicht verwendet (...)." So stand es bereits im Mandat für die Regierungskonferenz, beschlossen vom Rat im Juni 2007. Keiner der Regierungsvertreter will jetzt mehr daran erinnert werden, daß alle noch bis vor wenigen Wochen für eine europäische Verfassung gestritten hatten. Im Herbst 2005 hatte Bundeskanzlerin Merkel erklärt, daß "sie für die Ratifizierung des in Frankreich gescheiterten EU-Verfassungsvertrages kämpfen werde. Der Ratifizierungsprozeß dürfe 'auf gar keinen Fall' beendet werden."[1] Das Europäische Parlament forderte im Januar 2006, "alle Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustellen, daß die Verfassung im Laufe des Jahres 2009 in Kraft tritt". Heute ist das alles vergessen. Um jegliche Aufreizung zu vermeiden, verzichtet man zudem darauf, die Symbole der Union (Flagge, Hymne, Leitspruch und Europatag) vertraglich zu fixieren. Auch die nur Staaten zukommenden Bezeichnungen "Gesetz" bzw. "Rahmengesetz" für Rechtsetzungsakte werden im Reformvertrag fallengelassen.
Geboren worden war die Idee einer europäischen Verfassung ursprünglich einmal, um mit Hilfe einer durch sie mobilisierten Öffentlichkeit den Widerstand widerspenstiger Regierungen gegen den angestrebten institutionellen Umbau der Union auszuschalten. Doch die von dieser Idee angesprochenen Bürgerinnen und Bürger entwickelten ihre eigenen Vorstellungen von einer Verfassung. Jetzt will man diese geweckten Geister gern wieder loswerden. Niemand stellt aber die Frage, warum man denn nicht jetzt - nachdem die Verfassung in zwei Ländern durchgefallen ist - daran geht, eine neue, bessere auszuarbeiten. Auch von einem öffentlich tagenden Konvent, der den ersten Entwurf ausgearbeitet hatte, ist keine Rede mehr. Der nun vorgelegte Reformvertrag wurde, wie schon zuvor die Vertragsänderungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza, erneut hinter fest verschlossenen Türen allein von Regierungsvertretern ausgearbeitet. Anders auch als der Verfassungsvertrag wird er als Änderungsvertrag in völlig unleserlicher Form präsentiert. Jene, die wirklich an das Projekt einer europäischen Verfassung und an eine transparente Union geglaubt hatten, müssen sich düpiert fühlen.
Machtfrage im Mittelpunkt
Warum nun wird das Projekt eines Verfassungs- bzw. Reformvertrages nicht einfach fallengelassen, zumal die EU ganz offensichtlich auf der Grundlage des Vertrags von Nizza ganz gut arbeiten kann? Doch hier ist die Frage der Macht in der Union berührt. Ein Umbau der Institutionen steht seit zehn Jahren auf der Tagesordnung der EU. Seitdem geht es darum, die "drei Left-overs" der Amsterdamer Vertragsreform von 1997 aufzulösen. übrig geblieben waren damals Entscheidungen über die zukünftige Größe der Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung im Rat und über die inhaltlichen Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten Mehrheiten abstimmen kann. Die hier vom Verfassungs- bzw. Reformvertrag vorgesehenen Änderungen werden zur Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen und zur Stärkung der großen Mitgliedsländer führen. Die Kommission wird deutlich verkleinert, so daß nicht mehr jeder Mitgliedstaat in ihr zukünftig vertreten sein wird. Der Rat bekommt einen ständigen Präsidenten, und die Verantwortlichkeiten für Außen- und Sicherheitspolitik werden in einer Person gebündelt. Viele Fragen, in denen im Rat bisher Einstimmigkeit erforderlich war, werden dort zukünftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Dort zählt zukünftig, neben der Anzahl der Länder, die hinter der Entscheidung stehende Bevölkerungsgröße, was die großen Mitgliedsländer bevorteilt.
Die Angst vor drohenden Niederlagen bei Volksabstimmungen hat jetzt zu Korrekturen am alten Verfassungsvertrag geführt. Einige Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten sollen weniger stark eingeschränkt werden. Die Umstellung des Abstimmungsverfahrens auf die Bevölkerungsgröße wird erst ab 2014 gelten. Und sollte es nur ein Staat beantragen, so kann das alte Verfahren sogar bis 2017 angewandt werden. Nach der Einigung von Lissabon wird die sogenannte Ioannina-Formel institutionell abgesichert. Danach können Mehrheitsbeschlüsse hinausgezögert werden, wenn sie eine Sperrminorität nur knapp verfehlen.
Die Stellung der nationalen Parlamente wird in einigen Fragen gestärkt. Die ihnen eingeräumte Frist für Subsidiaritätskontrollen (gemeint ist die überprüfung des Grundsatzes, daß alles, was auf unterer, regionaler Ebene entschieden werden kann, auch dort entschieden wird - d. Red.) wird geringfügig von sechs auf acht Wochen erhöht, was aber für eine effektive Kontrolle immer noch viel zu kurz ist. Die Parlamente werden stärker in die politische Kontrolle von Europol und in die Bewertung der Tätigkeit von Eurojust einbezogen. Vereinbart wurde ein neues Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse, in dem "die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden" hervorgehoben werden. Erstmals wird geregelt, daß "die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten wieder wahrnehmen, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeiten nicht mehr auszuüben". Die Flexibilitätsklausel, wonach ohne eine spezifische Rechtsgrundlage Richtlinien und Verordnungen erlassen werden können, wird präzisiert, indem herausgestellt wird, daß "sie nicht als Grundlage für die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dienen" darf. Im Artikel über die Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten wird der Satz angefügt: "Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten." Zur Stärkung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten zählt auch, daß etwa in den Bereichen Kultur, Gesundheitswesen oder Bildung künftig hervorgehoben wird, daß die Union hier "Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführt, ohne daß dadurch die Zuständigkeit der Union für diese Bereiche an die Stelle der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten tritt". Auch wird erstmals eindeutig festgehalten, daß die Verträge mit dem Ziel geändert werden können, die der Union übertragenen Zuständigkeiten zu verringern.
Manche ursprünglich angestrebten Integrationsziele konnten zum Preis der Gewährung einer "Opting out"-Regel bzw. durch die Gestattung eines schnelleren Voranschreitens integrationswilliger Staaten gerettet werden. So ist die Charta der Grundrechte nicht mehr Bestandteil der Verträge, sie soll aber dennoch rechtsverbindlich sein. Großbritannien und Polen legen in einem Protokoll fest, daß die Charta zu keiner Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Gerichtshofes hinsichtlich der Rechtsordnungen ihrer Länder führt. Bei der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen und bei der polizeilichen Zusammenarbeit wird zukünftig gestattet, daß "Mitgliedstaaten bei einem Thema voranschreiten und andere sich nicht beteiligen".
Neoliberalismus und Aufrüstung
An den neoliberalen Inhalten des Verfassungsvertrags wird unverändert festgehalten. Lediglich an einer einzigen Stelle sah man Anlaß, zumindest eine kosmetische Änderung vorzunehmen. In einer gemeinsam von Nicolas Sarkozy und der Europäischen Kommission bereits auf dem Gipfel im Juni 2007 eingebrachten Formulierung wird bei den Zielen der Union auf die Forderung nach "einem freien und unverfälschten Wettbewerb" verzichtet. Offiziell wird dies damit begründet, daß es sich bei dem freien und unverfälschten Wettbewerb lediglich um ein Mittel und nicht um ein Ziel handele, daher gehöre diese Formulierung auch in den praktischen, politischen Teil. Und hier findet sie sich gleich mehrfach. Etwa in Artikel 98 EG-Vertrag, wo es heißt: "Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaften handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Die Bundesregierung beeilte sich denn auch sogleich zu erklären, daß "es in den EU-Verträgen ein Dutzend Passagen gebe, die als Grundlage für die auf das Jahr 1957 zurückgehende Wettbewerbspolitik dienten".[2] Und damit auch der letzte Zweifel daran beseitigt wird, daß es sich bei dieser Abänderung wirklich nur darum handelt, den antiliberalen Kritikern Sand in die Augen zu streuen, wurde ein "Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb" formuliert, in dem es unmißverständlich heißt, "daß zu dem Binnenmarkt (...) ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt (...)".
Ganz und gar unbeachtet blieb die Kritik an der Militarisierung der Union, an der Verpflichtung zur Aufrüstung, der Verknüpfung der EU mit der NATO sowie an der Ermöglichung von Kampfeinsätzen. All diese Aussagen des Verfassungsvertrags sind unverändert in den Reformvertrag übernommen worden. Hier findet sich auch der berüchtigte Satz wieder, wonach sich "die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Es bleibt bei der vertraglichen Verankerung der Rüstungsagentur.
Der vorgelegte Reformvertrag ist bis auf die wenigen beschriebenen Änderungen der alte Verfassungsvertrag. Dies wird von den herrschenden Eliten auch gar nicht bestritten. Daß es so kommen würde, war schon auf dem Gipfel vom Juni 2007 klar, wo ein sehr präzises Mandat für die nachfolgende Regierungskonferenz verabschiedet wurde. Valéry Giscard d’ Estaing, der ehemalige Konventspräsident, bezeichnet denn auch den Reformvertrag als "alte(n) Brief im neuen Umschlag". Nach Angela Merkel bleibt "die Substanz der Verfassung erhalten".[3] Und der irische Premier Bertie Ahern geht sogar davon aus, daß "90 Prozent noch vorhanden sind". Lediglich der britische Premier Gordon Brown, konfrontiert mit massiven Forderungen nach einem Referendum, tut so, als handele es sich um einen vollkommen neuen Vertrag. Die gegenüber dem gescheiterten Verfassungsvertrag vorgebrachte Kritik gilt denn auch für den neuen Reformvertrag. Folgerichtig haben dessen Kritiker bereits die Ablehnung auch des Reformvertrags angekündigt.
Mit der Unterstützung des Reformvertrages durch den französischen Präsidenten Sarkozy und den niederländischen Ministerpräsidenten Balkenende werden die ablehnenden Voten der französischen und der niederländischen Bevölkerung dreist mißachtet. Allein in Frankreich hatten sich am 29. Mai 2005 nicht weniger als 15422000 Wählerinnen und Wähler für das Nein entschieden. Es bleibt zu hoffen, daß sich die kritische Öffentlichkeit dieser Länder mit der jetzt versuchten Überrumpelung nicht abfinden wird.
Einige Schlußfolgerungen
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Mit dem Reformvertrag ist der alte Verfassungsvertrag nur an jenen Stellen substantiell verändert worden, wo er Anlaß für Referenden bieten könnte. Tatsächlich traut sich die europäische Elite in kaum einem Mitgliedsland mehr zu, eine Volksabstimmung zu gewinnen. In dieser um sich greifenden Angst vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich ihr Hegemonieverlust über die öffentliche Wahrnehmung der EU aus. Die Vertrauenskrise der Europäischen Union dauert an. Weitere, überraschende Niederlagen bei möglichen Volksabstimmungen über den Reformvertrag sind daher keineswegs ausgeschlossen.
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Der Reformvertrag würde, wie bereits der Verfassungsvertrag, zwar die Handlungsfähigkeit der EU erhöhen, dies aber auf Kosten der Demokratie.
Mit der Übertragung vieler Politikbereiche in das Mitentscheidungsverfahren, etwa im Bereich der Innen- und Rechtspolitik, verlören die Mitgliedsländer weitere Souveränitätsrechte. Zwar erhielte zugleich das Europäische Parlament ein Mitspracherecht in diesen Dingen, aber dieses Parlament ist eben nur ein halbes. Es besitzt weder ein Initiativrecht, noch kann es die Einnahmen der Union - das "Königsrecht" eines jeden echten Parlaments - festlegen. Es kann nicht die Kommission oder auch nur ihren Präsidenten wirklich wählen.
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Durch die Umstellung des Abstimmungsverfahrens im Rat auf das Prinzip der Demographie würden sich die Machtverhältnisse in der EU dramatisch verschieben. Hauptgewinner wäre Deutschland, das seine mit der Vereinigung deutlich gewachsene Bevölkerung voll zur Geltung bringen könnte. Allein sein Anteil stiege im Rat um mehr als hundert Prozent. Anwachsen würden auch die Stimmanteile von Großbritannien, Frankreich und Italien. Die vier Großen könnten zukünftig ein Direktorium errichten. Verlierer wären hingegen die mittelgroßen Staaten, etwa Tschechien, Portugal, Belgien oder Österreich. Die Union droht damit ihren traditionellen Charakter einer Aushandlungsgemeinschaft zu verlieren und eine feste Hegemonialordnung von Metropole und Peripherie zu werden.
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Bei der Ausarbeitung des Reformvertrages mußte nur wenig Rücksicht auf jene Kritiker genommen werden, die den Verfassungsvertrag ablehnten, da in ihm die neoliberale Ordnung des Binnenmarktes gemäß den Vereinbarungen von Maastricht festgeschrieben wurde. Im französischen Referendum dürften diese Argumente für das Non ausschlaggebend gewesen sein. Keine Rede ist jetzt mehr von der Idee Merkels, dem Vertrag ein Zusatzprotokoll über die soziale Dimension der EU beizufügen. Dieser unmittelbar nach der französischen Abstimmungsniederlage eingebrachte Vorschlag ist wieder fallengelassen worden. Angesichts einer gegenüber dem Verfassungsvertrag völlig unkritischen Sozialdemokratie war dies nicht länger notwendig. Doch auch von den großen europäischen Gewerkschaften war wenig Kritik zu hören. Nur wenige, etwa die französische CGT und der britische TUC, stellten sich gegen den Verfassungsvertrag. Die übrigen - unter ihnen auch die deutschen - nahmen eine zustimmende bzw. ambivalente Haltung ein. Weit verbreitet sind dort illusionäre Hoffnungen auf eine korrigierende Wirkung der Grundrechtecharta.
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Ungeachtet der in Lissabon erreichten Einigung kommt der Prozeß einer Vertiefung der Integration ins Stocken. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU besteht offenbar noch Konsens über den Erhalt und den weiteren Ausbau des neoliberalen Binnenmarkts als auch über den Kurs der Militarisierung der Union. Keine Einigkeit besteht jedoch über die weiteren Integrationsschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wie auch in der Innen- und Rechtspolitik. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, so hat sich der bereits in den Verhandlungen des Konvents zu spürende Widerstand einzelner Länder gegen eine weitere Integration verstärkt. Ausdruck findet dies nun in dem Verzicht des Reformvertrages auf den Titel "Außenminister". In der Innen- und Rechtspolitik bleiben die 1997 Großbritannien und Irland gewährten Ausnahmebestimmungen in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und freier Reiseverkehr erhalten und werden sogar noch um Fragen der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeilichen Zusammenarbeit erweitert.
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Mit dem Reformvertrag erweist sich die Hoffnung auf "eine immer engere Union" als Illusion. Der Verfassungsprozeß und damit der Versuch einer rechtlichen Legitimierung einer superstaatlichen Ordnung auf europäischer Ebene mußte auf Druck der Öffentlichkeiten einiger Staaten abgebrochen werden. Augenfälliger Ausdruck davon ist der Verzicht auf den Begriff Verfassungsvertrag und auf die vertragliche Erwähnung der Symbole der Union. Die EU kann nun klarer als das wahrgenommen werden, was sie im Kern vor allem ist: Ein Zusammenschluß von Staaten unter Führung des Kapitals, dem die auf Gewinnmaximierung gerichteten Gesetze des Marktes als eigentliche Verfassungsgrundsätze dienen.
Fußnoten-
Merkel und Chirac: "Wir gehen gemeinsam vor", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.11.2005
- "Neues Bekenntnis zum freien Wettbewerb", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.6.2007
- Telegraph v. 29.6.2007
* Vom Autor erschien 2006 im PapyRossa Verlag, Köln, das Buch "Das Publikum verläßt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise" (206 S., brosch., 14,90 Euro)
Aus: junge Welt, 24. Oktober 2007