Neues Deutschland, 05.08.06
| Gastkolumne
Wie lange noch?
Von Eduardo Galeano
Der uruguayische Schriftsteller (65) schrieb u. a. den Roman "Die offenen Adern Lateinamerikas".
Ein Land bombardiert zwei Länder. Die Straffreiheit, mit der dies geschieht, würde Verwunderung hervorrufen, wenn sie nicht schon zur Gewohnheit geworden wäre. Einige verschüchterte Proteste sprechen von Fehlern, die gemacht worden seien. Wie lange noch wird der Horror "Irrtum" genannt?
Hisbollah existierte noch nicht, als Israel den Libanon durch die vorangegangenen Invasionen verwüstete. Wie lange noch sollen wir die Geschichte vom angegriffenen Aggressor glauben, der Terrorismus ausübt, weil er sich im Recht fühlt, sich gegen Terrorismus zu verteidigen?
Israel hat sechsundvierzig Empfehlungen der Generalversammlung und anderer Organisationen der Vereinten Nationen ignoriert. Wie lange noch dürfen die Regierungen in Israel das Privileg genießen, taub zu sein?
Die Vereinten Nationen empfehlen, beschließen aber nichts. Wenn die UNO etwas beschließen will, wird es vom Weißen Haus mit dem Vetorecht verhindert. Washington hat im Weltsicherheitsrat vierzig Resolutionen, die Israel verurteilten, mit dem Veto zu Fall gebracht. Wie lange noch agieren die Vereinten Nationen, als würden sie Vereinigte Staaten von Amerika heißen?
Seit die Palästinenser aus ihren Häusern und Ländereien verjagt worden sind, ist viel Blut geflossen. Wie lange noch soll das Blut fließen, damit Gewalt das rechtfertigt, was das Gesetz verbietet?
Der Iran entwickelt die Nuklearenergie. Wie lange glauben wir noch, dass so etwas als Beweis ausreicht, um das Land als eine Gefahr für die Menschheit anzusehen? Offenbar stört es die sogenannte internationale Gemeinschaft überhaupt nicht, dass Israel zweihundertfünfzig Atombomben besitzt, obwohl es ein Land ist, das offenbar kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Wer bedient eigentlich die Gefahrenmessmaschine der Welt? Hieß das Land, das die Atombomben über Hiro-shima und Nagasaki abgeworfen hat, Iran?
Im Globalisierungszeitalter ist das Recht, Druck auszuüben, stärker, als die Ausdrucksfreiheit. Um die illegale Besetzung von Palästina zu rechtfertigen, wird der Krieg "Frieden" genannt. Die Israelis sind Patrioten und die Palästinenser sind Terroristen, und Terroristen lassen die Weltalarmglocken läuten. Wie lange noch werden die Kommunikationsmedien kommunikationsscheu sein?
Die Bombardements töten Kinder. Wer sich untersteht zu protestieren, wird als Antisemit angeklagt. Wie lange noch werden wir, die Kritiker der Verbrechen des Staatsterrorismus, Antisemiten sein? Wie lange noch werden wir uns das gefallen lassen? Sind die Juden, die darüber entsetzt sind, was da in ihrem Namen getan wird, auch Antisemiten? Sind die Araber, Semiten wie die Juden, auch Antisemiten? Gibt es da nicht auch arabische Stimmen, die die palästinensische Heimat verteidigen gegen das Narrenhaus des Fundamentalismus?
Die Terroristen sehen sich alle ähnlich. Da gibt es seit den Zeiten des Kalten Krieges gegen den kommunistischen Totalitarismus Staatsterroristen, als respektable Machtpolitiker und private Terroristen, als losgelassene Verrückte oder organisierte Verrückte. Alle berufen sich auf Gott, ob er nun Gott, Allah oder Jehova heißt. Wie lange noch übersehen wir, dass alle Terrorismen das Menschenleben verachten und dass sie sich gegenseitig ernähren? Ist es denn nicht offensichtlich genug, dass in diesem Krieg zwischen Israel und Hisbollah die Toten Zivilisten sind, Libanesen, Palästinenser, Israelis? Ist es denn nicht offensichtlich genug, dass die Kriege in Afghanistan und Irak und die Invasionen von Gaza und Libanon Brutkästen des Hasses sind, die Fanatiker am laufenden Band produzieren?
Wir Menschen sind die einzige tierische Spezies, die auf die gegenseitige Ausrottung spezialisiert ist. Wir spenden 2,5 Milliarden US-Dollar täglich für Rüstungszwecke. Das Elend und der Krieg sind Töchter und Söhne des gleichen Vaters - wie ein grausamer Gott frisst er die Toten und die Lebenden. Wie lange noch lassen wir es zu, dass diese Welt, im Liebestanz mit dem Tod, unsere einzig mögliche Welt bleibt?