Ent-Rüstung gegen soziale Ausgrenzung

Ansprache auf dem Ostermarsch in Gelsenkirchen am 16. April 2006

von Pfarrer Dr. Rolf Heinrich (GE_Hassel)

"Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit."

So beginnt ein Lied, das Schalom Ben-Chorin 1942 schrieb und das auf Ostermärschen oft gesungen wurde.

Wir stehen hier am Mahnmal für die Opfer von Krieg und Faschismus. Sie sind nicht vergessen, sie sind schmerzhaft gegenwärtig. Wer sich an die Opfer von Krieg und Unrecht erinnert, der wird ermutigt, aufzustehen und zu demonstrieren für Frieden, Abrüstung und Demokratie. Denn die Erinnerung an die Opfer ist die Kraft der Versöhnung. Das Nicht-Vergessen mahnt die Lebenden, das Leben als höchstes und schützenswertestes Gut zu achten.

"Zerstampft des Unrechts Drachensaat. Zerstört den Hass von Staat zu Staat. Versenkt die Waffen in Gewässern" heißt es im Gedicht in der Mitte des Denkmals.

Wir haben einen Kranz niedergelegt: Der Kranz ist ein Zeichen der Achtung, des Respekts und zugleich ein Zeichen für das Leben und den Sieg des Lebens.

Wir feiern heute Ostern und darin die Hoffnung, dass die Kräfte des Lebens stärker sind als die Mächte des Todes und dass es ein für allemal ein Ende aller Opfern gibt: Kein Mensch sollte auf den Wegen seines Lebens geopfert werden oder zum Opfer verführt werden.

Menschen aber werden nach wie vor zu Opfern: Sie werden geopfert aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Machtinteressen.

Weltweit werden Menschen zum Töten und Getötet werden auf die Jagd geschickt um des Geldes und der Vermehrung des Geldes willen.

Die Wurzel allen Übels, aller Kriege und Gewalttaten ist die Habgier, heißt es in der Bibel, weil sie die Beziehungen der Menschen untereinander zerstört, indem andere ausgenutzt und ausgebeutet werden, anstatt mit ihnen solidarisch zu teilen.

Der persönlichen Habgier entspricht die Struktur einer Wirtschaft, die in der Steigerung der Profitrate ihr einziges Ziel und ihren Sinn sieht.

Frieden und soziale Gerechtigkeit aber gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, dem es an Geld fehlen soll für Kindergartenplätze, für Treffpunkte für Jugendliche, für Bildung und Kultur, für Gesundheit und Altersvorsorge.

Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, in dem Unternehmen Rekordgewinne erwirtschaften, Aktionäre sich auf einen Milliardensegen freuen können, gleichzeitig aber die Säuglingssterblichkeit im Ruhrgebiet besonders hoch ist und Kinderarmut besorgniserregend die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder verhindert.

Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, in dem die Wertpapiere der Rüstungsindustrie eine lukrative Geldanlage sind. Europäische und deutsche Hersteller von Tötungsmaschinen profitieren prächtig von der neuen Weltlage, die Kriege für ein Mittel der Politik hält.

Selbst das Nein zum Irak-Krieg hat keinem Rüstungsunternehmen geschadet. Die Aktien der deutschen Waffenschmiede haben sich viel besser entwickelt als amerikanische Rüstungspapiere.

Die neue Bundesregierung unterstützt diese menschenverachtenden Prozesse, indem sie das Ziel verfolgt, Deutschland zu einer Militärmacht aufzurüsten, die weltweit agiert und gleichzeitig die Bundeswehr zur Gewaltanwendung im Inneren im Kampf gegen den Terror einsetzen will.

Rüstung aber tötet nicht nur im Krieg, sondern schon vor dem Krieg, weil sie ein Wirtschaften für das Leben verhindert.

In einem der reichsten Länder der Erde, das seinen Reichtum so verteilen könnte, dass alle Menschen in ihrer Existenz gesichert und in Würde leben könnten, nimmt die Ungleichheit zu und wird die Kluft zwischen Reichen und Armen immer größer. Macht und Reichtum konzentrieren sich in den Händen weniger. Wirtschaftliche und militärische Macht zerstören die Lebensgrundlagen.

20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl wird die so genannte friedliche Nutzung der Atomenergie wieder in Deutschland als lukratives Geschäft entdeckt. So genannte friedliche und die militärische Nutzung der Atomenergie aber sind siamesische Zwillinge.

Die Atommächte, die den Iran wegen seines Strebens nach atomarer Bewaffnung bedrohen, besitzen selbst große atomare Waffenlager. Jeder, der Atomwaffen besitzt, stellt ein Risiko für die Menschheit dar. Wer gegen Atomwaffen ist, sollte mit der Abschaffung bei sich selbst beginnen und aus der Nutzung der Atomenergie endgültig aussteigen.

Mitten in einer Welt ungeheuren privaten Reichtums wird öffentlich Sparzwang propagiert. Gespart wird an den Leben fördernden öffentlichen Gütern Bildung, Gesundheit und Soziales. Unsummen aber stehen zur Verfügung für Rüstung, für Mordwerkzeug und für Güter, die das Leben gefährden und zerstören.

Sozialabbau und kopfloses Sparen, eine dadurch bedingte vorsätzliche Ausgrenzung der Armen und Schwachen zerstören die Gesellschaft und sind Gewalt. Nicht sozial abrüsten, sondern militärisch abrüsten, dient dem Leben.

Wie friedlich, wie gerecht und wie menschlich eine Gesellschaft und ein Staat sind, das zeigt sich daran, wie die Ausgegrenzten, die Schwachen, die Armen und Machtlosen in ihnen leben können. Die Solidarität der Starken mit den Schwachen, der Wohlhabenden mit den Armen ist lebensnotwendig für eine Gesellschaft, die sich nicht selbst zerstören will.

Wir aber leben in einer Klassengesellschaft, die darauf setzt, dass Menschen, vereinzelt und allein gelassen, für sich und ihr Leben sorgen sollen. Öffentliche Güter des Lebens werden privatisiert und zu einer Ware, vom Wasser über Bildung bis hin zur Gesundheit und Altersvorsorge. Privatisierungen entziehen der Demokratie Gestaltungsmöglichkeiten. Sie zerstören das Gemeinwohl und den Gemeinsinn. Nicht die Gemeinschaft, nicht der Staat, nicht die Gesellschaft und damit nicht die in ihnen lebenden Menschen sollen gemeinsam solidarisch verantwortlich sein für Wohnung und Arbeit, für Bildung und Gesundheit. Öffentliche Güter des Lebens werden auf den Markt der Waren geworfen. Aber Wasser und Wohnen, Gesundheit und Bildung sind keine Güter wie Kühlschränke, Autos oder Wertpapiere.

Angesichts dieser unwürdigen und ungerechten Lebensverhältnisse müsste eigentlich auch in Deutschland längst ein Sturm der Entrüstung losgebrochen sein und müssten Menschen zornig vor Entrüstung werden. Entrüstung ist zwar ehrenwert, aber sie erschöpft sich schnell. Entrüstung alleine genügt nicht und bleibt oft folgenlos.

Es ist ermutigend, dass es in Deutschland viel mehr Menschen gibt, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen als öffentlich wahrgenommen wird.

Die öffentliche Meinung ist in der Regel fixiert auf mächtige Institutionen. Sie berichtet eher über zerstörerische Ereignisse als über ermutigende Erfahrungen. Wer aber genauer hinsieht, der findet viel Ermutigendes, der entdeckt Gruppen und Menschen, die gemeinsam etwas bewirken und dem passiven hilflosen Hinnehmen widerstehen. Dieses tägliche Widerstehen im Kleinen, dieses vielgestaltige Einsetzen für ein menschenwürdigeres Leben überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ist wichtig für die Hoffnung der Menschen.

Es gibt ein wachsendes Interesse nach alternativen Lebensformen, nach Modellen gemeinsamen Wirtschaftens und Lebens. Sie scheitern immer wieder und brechen immer wieder auf bis zum heutigen Tag. Sie bewegen Menschen und lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Das spricht für die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit.

Menschen engagieren sich in Selbsthilfebewegungen, in Konsum- und Verbrauchergenossenschaften und in Suppenküchen. Sie hinterfragen unsere Konsum- und Warenwelt und führen einen einfachen Lebensstil.

Gegen die Privatisierung von Wohnungen werden Wohnungsgenossenschaften gegründet.

Menschen arbeiten über die Grenzen der Religionen und Konfessionen hinweg in interreligiösen Gemeinschaften für den Frieden und die Bewahrung der Erde. Sie nehmen Flüchtlinge auf und widersetzen sich der Fremdenfeindlichkeit.

Menschen versuchen Geld gerechter zu teilen in Gemeinschaftsbanken und Tauschringen.

"Entrüstet Daimler!" unter diesem Motto engagieren sich kritische AktionärInnen von Daimler/Chrysler seit Jahrzehnten für Rüstungskonversion, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit.

Es gibt Investmentfonds, die nur in ethisch reinen Anlagen investieren. Für sie sind alle Unternehmungen Tabu, die mit Rüstung, Tierversuchen, Suchtmitteln, Spielhöllen oder Prostitution Geld verdienen.

Wir sind nicht hilflos dem ausgeliefert, was in unserer Gesellschaft geschieht. Wir können der Opfer gedenken und dazu beitragen, neue Opfer zu verhindern. Wir können ungerechte wirtschaftliche Strukturen verwandeln, denn Wirtschaftssysteme und Strukturen existieren nicht durch sich selbst, sie brauchen Menschen, die sie aktiv betreiben.

Eine Welt ohne Armut und Krieg ist nicht nur möglich, sie ist notwendig, um die Not zu wenden.

"Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.

Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt."